: Afghanischer oberster Richter gegen gemischtes Lernen
In Afghanistan mehren sich die Anzeichen, dass die islamischen Gelehrten die Öffnung der Bildungseinrichtungen wieder zurückdrehen wollen. Jungen und Mädchen sollen in den Schulen getrennt lernen, fordert Fazl Hadi Schinwari. Das hieße: Der Mädchenunterricht entfällt häufig ganz
KABUL taz ■ Afghanistans Mullahs wollen offenbar ihre Kollegen in der benachbarten pakistanischen Grenzprovinz ideologisch wieder überholen. Die dortigen Islamisten hatten ihren – erfolgreichen – Wahlkampf mit der Forderung bestritten, den gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen zu beenden. Gestern verkündete Afghanistans Oberster Richter in einem Interview, dass er genauso denkt: Der greise Fazl Hadi Schinwari sagte, koedukatives Lernen von Mädchen und Jungen verletze „islamische Verbote“ und die „soziale Moral“.
Es wäre verfrüht anzunehmen, dass nun ein landesweites Verbot der Koedukation droht. Bis zu einem etwaigen Erlass in diese Richtung ist noch ein langer Weg. Dass Schinwari ein Verbot gemeinsamen Unterrichtens gegen Interimsstaatschef Hamid Karsai und dessen westliche Unterstützer durchsetzen kann, ist ebenfalls fraglich. Das würde ein zu schlechtes Licht auf die neue afghanische Staatlichkeit werfen und ganz sicher viele Entwicklungshilfegeber verprellen. Einige von ihnen wie die EU und Schweden haben schon früher mit Zahlungseinstellungen gedroht, sollte es in Sachen Frauenrechte Rückschritte geben. Die Afghanistan-Mission der Vereinten Nationen in Kabul hatte gestern noch keine Kenntnis von Schinwaris Äußerungen.
Ausnahme Koedukation
In Afghanistan ist die Ausgangslage auch anders als in Pakistan: Der gemeinsame Unterricht war hier nach dem Sturz der Taliban vor etwas mehr als einem Jahr noch überhaupt nicht umfassend wieder hergestellt worden. Das lag zum einen daran, dass gemeinsamer Unterricht schon vor den Taliban eher die Ausnahme und auf die unteren Klassen – bis zur angenommenen Geschlechtsreife der Mädchen – sowie auf Universitäten beschränkt war. Heute fehlt es an Schulen und ausreichend qualifizierten Lehrkräften, um des Andrangs nach dem Sturz der Taliban Herr zu werden. Nach UN-Angaben besuchen landesweit etwa drei Millionen Kinder wieder den Unterricht, während weitere 1,5 Millionen mangels Infrastruktur noch immer warten müssen. Eine Folge des Mangels: Es bleiben vor allem Mädchen außen vor oder können nur, wie jetzt während der Winterferien, in denen die Jungs zu Hause bleiben, in „deren“ Schulen eine Art von Schnellkursen absolvieren.
Zum Zweiten existieren in der herrschenden Koalition, vor allem unter den Warlords und früheren Mudschaheddin-Kommandeuren, starke islamistische Tendenzen. Die unterscheiden sich oft nicht von den Praktiken der Taliban. So untersagte der Warlord der westafghanischen Großstadt Herat, Ismail Khan, bereits Anfang Januar gemeinsames Lernen in den äußerst populären privaten Englisch- oder Computerkursen (taz vom 17. 1). Das trifft eher ältere Jugendliche. Dort dürfen männliche Lehrkräfte auch keine Mädchen mehr unterrichten. Da gerade hier – wegen des Taliban-Bildungsverbots – Lehrerinnen fehlen, bedeutet dies das Aus für Kurse, die auf das weibliche Publikum zielen. Frauen aber haben nach den Taliban den größten Aufholbedarf. Interessant an Schinwaris Interview ist, dass er Ismail Khans Anweisung ausdrücklich gutheißt.
Vorbild Geheimschule
Schinwari ist ein Anhänger des für extreme Menschenrechtsverletzungen bekannten prosaudischen Warlords Abdul Rabb Rassul Sayyaf. Sein jüngster Ausfall ist nicht der erste dieser Art: Im vorigen Sommer schickte er seinen Stellvertreter vor, eine Art Berufsverbot für die damalige Frauenministerin Sima Samar wegen angeblicher „unislamischer“ Äußerungen zu befürworten. Zwar wurde Schinwari damals zu einem Rückzieher gezwungen, aber in dem nach wie vor repressiven Klima Afghanistans verfehlen solche Vorstöße nicht ihre Wirkung.
Fragt man Afghanen auf der Straße nach ihrer Meinung, fällt die Antwort überwiegend positiv aus: Sie befürworten gemischten Unterricht. Immerhin waren viele der Untergrundschulen, die entlassene LehrerInnen zu Taliban-Zeiten in ihren Wohnungen aufzogen, in ihrem Ansatz koedukativ. Richter Schinwari wird aber nicht gefragt haben, denn die Religion interpretieren dürfen seiner dominierenden, konservativen Auffassung nach nur Ulema – islamische Rechtsgelehrte wie er selbst.
In Schinwaris Rechtsauffassung kommt eine grundlegendere Frage zum Ausdruck, die die afghanische Gesellschaft in der bevorstehenden Verfassungsdiskussion beantworten muss: Wird Afghanistan ein moderner, wenn auch islamisch geprägter, ein islamischer oder gar islamistischer Staat? Auch das müsste eigentlich längst beantwortet sein. Teppichhändler Achtar Muhammad, allgemein zur Lage befragt, hebt seine Hand zur Erklärung. Er umfasst drei von fünf Fingern und machte eine halbierende Geste am vierten: Dreieinhalb von fünf Afghanen in der konservativen Hochburg Kandahar seien noch für die internationale Unterstützung Karsais, einschließlich der militärischen, trotz aller US-Übergriffe.
Ähnlich würde das Urteil auch in Sachen moderner Staat ausfallen – einschließlich der Bildungsfrage. JAN HELLER