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Archiv-Artikel

Ein Ort aus der Zeit vor der neuen Mitte

Das Café Cinema am Hackeschen Markt ist so alt wie die Berliner Republik. Doch anders als diese und als die „neue Mitte“ Berlins hat sich dieses erste Ost-West-Projekt der wiedervereinigten Stadt bis heute kaum verändert

EINHEITSFANMEILE

Der Tag der Deutschen Einheit am Freitag wird mit einem dreitägigen Fest im Tiergarten gefeiert. Die Straße des 17. Juni wird vom 3. bis 5. Oktober zur 1,5 Kilometer langen Festmeile. Am Brandenburger Tor werden am Freitag unter anderem die Bands Ich + Ich, Die Prinzen, Scooter und Klee auftreten. Die Fanmeile öffnet am Freitag um 12 Uhr, am Wochenende um 10 Uhr. Veranstaltungsende ist jeweils um Mitternacht, Sonntag bereits um 20 Uhr.

VON ULRIKE STEGLICH

Sie werden nicht groß feiern. Obwohl das Café Cinema am Hackeschen Markt – kurz CC genannt – heute 18 Jahre alt wird. Damit ist das Café genau zwei Stunden älter als die vereinigte Republik. Das CC ist inzwischen die älteste Kneipe am Platz. Das sagt einiges aus über den Platz, die Kneipe und den Lauf der Zeit.

Die Filmscheinwerfer unter der schwarz gestrichenen Decke sind immer noch dieselben wie damals, ebenso das weiße Klavier und die Holztische, auf denen jetzt noch die Stühle stehen. Michael Buch sitzt am Fenster und erinnert sich, wie sie damals zum ersten Mal öffneten, am 2. Oktober 1990 um 22 Uhr. Die DDR würde es nur noch zwei Stunden geben. Es war weniger politische Symbolik als vielmehr eine emotionale Entscheidung: Michael Buch kam aus Westberlin, seine Geschäftspartnerin Monika Puhlemann aus Ostberlin. „Wir wollten einfach noch zu DDR-Zeiten aufmachen.“

Buch schaut aus dem Fenster, es ist ein sonniger Herbstmorgen, draußen schieben sich die ersten Touristenpulks über die Rosenthaler Straße Richtung Hackesche Höfe. Der Platz vor dem S-Bahnhof ist mit Kneipentischen vollgestellt, smarte junge Menschen flanieren an sanierten Fassaden vorbei, um die neuesten Boutiquen, Showrooms und Designerläden zu inspizieren. Nichts erinnert mehr an das Viertel von 1990. Abgesehen von der Rosenthaler Straße 39 mit dem CC.

„Draußen huschten einige Gestalten vorbei, die Häuser waren grau und die Straße schlecht beleuchtet“, erinnern sich die beiden Gründer an den ersten Abend. „Die einzigen Farbtupfer waren die gelben Straßenbahnen – damals noch ohne Werbung. Gegenüber, wo heute die Neuen Hackeschen Höfe stehen, war eine Freifläche mit Bäumen und einem wilden Parkplatz, auf dem nachts Damen ihre Dienste anboten.“ Die Spandauer Vorstadt war bis dahin ein einfaches Ostberliner Arbeiterquartier, dessen Altbausubstanz seit Jahren dem Verfall preisgegeben war. Es gab ein paar alte Bierkneipen, den Sophienclub und den Münzclub. Das CC war eines der ersten neuen Cafés im Kiez. Das frischgebackene Ost-West-Joint-Venture Puhlemann/Buch hatte es vom Film- und Fernsehverband der DDR gepachtet, der damals hier seinen Sitz hatte. Aus dieser Zeit stammen die schwarz gestrichene Decke mit den Scheinwerfern und die alten DDR-Kinoplakate an der Wand. Links und rechts vom CC, in den Hackeschen Höfen und in der Rosenthaler 38, hatte das DDR-Fernsehen Probenstudios, die Mitarbeiter machten hier oft Pause.

Monika Puhlemann wollte ein Café machen, dazu brauchte man damals einen Gastronomiefachmann, den sie in Michael Buch fand. Der Kreuzberger mit Ostberliner Familienwurzeln wiederum war fasziniert von der Wende, dem Mauerfall und den sich überschlagenden Ereignissen: „Das war mein 1968.“ Sie waren euphorisiert, sie dachten nicht darüber nach, ob sie hier, im Kiez mit dem miesen Ruf, am richtigen Platz seien. „Ich war 26, da machst du dir keine Gedanken, da machst du einfach.“

Die neuen Betreiber ließen die schwarze Decke, die Scheinwerfer und Plakate, wie sie waren, sie besorgten Mobiliar auf Trödelmärkten, den Tresen lieh ihnen der Ostberliner Jazzmusiker Uli Gumpert. Es gab gefilterten Milchkaffee, Flaschenbier und Chianti, belegte Brötchen und Kuchen. Und die Leute kamen: Jüngere und Ältere, Ostler und Westler, Altansässige und Neuzugänge. Im Viertel gab es viel Leerstand, Häuser und Wohnungen wurden besetzt, leere Läden von Künstlern genutzt. Wer damals abends das CC betrat, diesen schmalen, schlauchförmigen, schummrigen Raum voller Rauch und Stimmengewirr, traf auf ein buntes Völkchen: DDR-Oppositionelle, neugierige Westberliner, Künstler, Studenten, Straßenmusiker, Blumenverkäufer. Natürlich ließ auch die allgegenwärtige singende Nervensäge, die Nachtigall von Ramersdorf, nicht lange auf sich warten. „Es gab ja Ende 1990 hier sonst nicht viel“, sagt Buch; das Odessa und das Zapata im Tacheles, später kamen das Ici hinzu, die Assel, das Obst und Gemüse, die VEB OZ, das Café Paz, das Silberstein. Das Viertel wurde bunter, und noch waren die Ostmieten unschlagbar niedrig.

„Im Cinema trafen viele Leute aus dem Westen und dem Osten zum ersten Mal aufeinander. Manchmal eher vorsichtig, manchmal auch laut und voreingenommen. Und es wurde viel geküsst,“ erzählt Buch.

Eines der wenigen Dinge, die im Laufe der Jahre im CC ausgewechselt wurden, war das Sofa gleich neben dem Klavier, das „Kusssofa“. Es lud förmlich zur Annäherung und zum Knutschen ein. Irgendwann war es so durchgesessen, dass ein neues her musste. Es sieht allerdings genau so aus wie sein Vorgänger: alt, plüschig und durchgesessen.

Manche von denen, die hier geküsst haben, sind auf den zahllosen Fotos an den Wänden zu sehen. Arvid Lagenpusch hat sie gemacht, der langjährige Hausfotograf der Komischen Oper und einer der ersten Stammgäste des CC. „Arvid steckte entweder in der Oper, der Dunkelkammer oder in der Kneipe. Die halbe Stadt kennt ihn, hauptsächlich die jüngeren Frauen“, sagt Buch. Seit Anfang der 90er hat Lagenpusch die Gäste porträtiert – mit wachsender Vorliebe für schöne junge Frauen. Aber da sind auch andere, vertraute Gesichter: der Pantomime Eberhard Kube, der Schriftsteller Klaus Schlesinger, der Zeitungsverkäufer Peter.

Lagenpuschs Fotos, die Plakate, die Schweinwerfer, das ganze CC blieben zuverlässige Konstanten in einem Viertel, das mit dem Mauerfall von der Randzone zum Zentrum der vereinigten Stadt mutiert war und sich in rasantem Tempo wandelte. Immer mehr Galerien und Kneipen siedelten sich an, die Hackeschen Höfe wurden saniert, Touristenbusse schaukelten durch die Gegend, die Spandauer Vorstadt wurde erst zum Szeneviertel, dann zur „neuen Mitte von Berlin“. Die Häuser wurden saniert, die Mieten explodierten und die Grundstückspreise. Bloß die Rosenthaler Straße 39 entzog sich hartnäckig dem Boom. Es blieb einfach, wie es war. Zumindest fast: Ein Raucherzimmer ist hinzugekommen, wegen des Rauchergesetzes und weil das CC ohne Raucher schlicht nicht vorstellbar wäre. Auch das Publikum im CC, sagt Buch, hat sich ein bisschen gewandelt. „Die Leute sind viel beschäftigter, nicht mehr so entspannt und ausgelassen. Und es nicht mehr so familiär, eher touristischer.“

Dass es das CC heute noch gibt, ist wohl auch den Eigentumsverhältnissen geschuldet: Für die Rosenthaler Straße 39 gab es Rückübertragungsansprüche einer weltweit verstreuten jüdischen Erbengemeinschaft, das Verfahren zog sich hin. 1995 bekam das CC, das sich mit Einjahresverträgen durch die Zeiten hangelte, Gesellschaft und Rückendeckung: Künstler zogen ins Hinterhaus, erklärten das Territorium zur „Republik Schwarzenberg“, setzten die marode Bausubstanz instand, legten die Geschichte des Hauses frei: Sie gründeten das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt. Und zwar in genau den Räumen, in denen der Kleinfabrikant Weidt in der Nazizeit blinde und gehörlose Juden beschäftigte und einige vor der Deportation versteckten konnte. So schuf die „Republik Schwarzenberg“ einen einzigartigen Ort. So einzigartig, dass sich das Land Berlin vor drei Jahren entschloss, das „Haus Schwarzenberg“ vor den Begehrlichkeiten der Investoren zu retten, indem es die Immobilie bei der Zwangsversteigerung selbst erwarb. Es gibt keinen Ort im Viertel, der so viel Geschichte erzählt wie die Rosenthaler 39.