: Zu Fuß durch ein fremdes Land
Bericht von einer Wanderung durch menschenleere Landstriche, von Berlin ans Meer. Ein Abenteuer – und manchmal sehr öde
von BARBARA SCHÄFER
Es sollte sieben Tage dauern, bis die Frage kam. In der Dorfkirche von Helpt, im einsamen Ostvorpommern, fegt eine alte Frau den Boden. Sie trägt eine blaue Kittelschürze überm wadenlangen Rock, ein Kopftuch, klobige Stiefel; eine Trümmerfrau im frühgotischen Gotteshaus. Jetzt stützt sie sich auf ihren Besenstiel, schaut mich an: „Woher kommen Sie denn zu Fuß? Kommen Sie aus Berlin?“ Ja genau! „Und jetzt wollen Sie weiter, Sie wollen wohl an die Ostsee?“ So ist es.
Berlin-Kreuzberg, 8. August 2002: Ich bringe den Müll runter und gehe los. Zu Fuß und allein durch unbekannte Landschaften und Befindlichkeiten, das ist der Plan; aus der Haustür heraus nach links, Richtung Norden, und dann immer geradeaus, 250 Kilometer bis ans Meer.
Die S 4 fährt nach Karow, an den Stadtrand von Berlin. Die S 4 wäre die Alternative zu den Asphaltstraßen der Großstadt. „Aber wieso eine Wanderung unnötig hinauszögern?“ Hamish Fulton, britischer Landartkünstler und manischer Wanderer, antwortete so auf die Frage, warum er sich nicht mit dem Auto an den Stadtrand bringen lasse. Die körperliche Betätigung des Wanderns, so Fulton, mache für die Landschaft empfänglich.
Ich selbst wandere seit Jahren, auf Fernwanderwegen vom Bodensee ins Tessin, von Hütte zu Hütte in den Alpen und Coast-to-Coast in England. Aber die nun bevorstehende Route ist anders, einfacher und abenteuerlicher zugleich, sie führt von Berlin ans Meer, entlang der gedachten Linie, die mit einem gelbem Textmarker auf einer Deutschlandkarte gezogen wurde.
Zunächst aber geht es durch die Stadt. Der Wrangelkiez ist ein bunter Kiez, niedliche Punks schlurfen über die Straße, Türken palavern vor dem Obststand, aus dem Bioladen tritt ein Mädchen mit Rastalocken. Ein Mensch mit Wanderstiefeln und Rucksack ist hier nur ein weiteres Unikum, danach dreht sich niemand um. Das sollte sich außerhalb Kreuzbergs ändern.
Auf der Oberbaumbrücke geht es nach Friedrichshain. Über die Brücke zieht sich eine zweireihige Linie aus Pflastersteinen, hier stand die Mauer. Nun also beginnt die Reise durch den Osten. In der sechsspurigen Karl-Marx-Allee, zu Füßen der protzmächtigen Zuckerbäckerarchitektur fühlt sich der Fußgänger klein. Sehr, sehr lange geht es, mit einem Ausriss des Stadtplans in der Hand, nach Norden, vorbei an endlosen Mietskasernen, Platte an Platte.
Stunden später, Ödnis breitet sich hinter dem feuerwehrroten Trabi aus, der mit Firmenlogo bemalt den Weg zum McDrive zeigt. Hart an der Autobahn entlang führt ein Weg über den Güterbahnhof von Pankow, nichts für Fußgänger. Fulton! Das kommt davon, wenn man nicht auf den Spuren eines Romantikers wandert, sagen wir mit William Wordsworth durch den britischen Lake District, sondern sich an einen Konzeptkünstler dranhängt: Von der Haustür weg loszuwandern ist ein überzeugendes intellektuelles Konzept, aber extrem öde.
„Pension mit Pool“ verspricht ein Schild in Karow, weniger ein Dorf als eine Ansammlung von Häusern im nördlichen Speckgürtel. Die Vermieterin sitzt beim Nachmittagskaffee, ausgebucht, ruft sie über den Gartenzaun. Wer hätte gedacht, dass nach Karow Urlauber kommen, hier gibt es nicht einmal einen Badesee. Das Hotel Karow hingegen ist ordentlich renoviert, wer übernachtet da? „Keene Ahnung. Vielleicht wenn jemand hier feiert“, rätselt das Mädchen an der Rezeption. Sie ist wohl nicht von hier? Nee! Entrüstet sie sich. Sie kommt vom Prenzlberg, „wo das Leben tobt“.
In der Pizzeria Fontana di Trevi kehrt über einem Teller Pasta die Erinnerung an den Morgen zurück, ans Losgehen. An die Aufregung, die größer war als vor Reisen in ferne Länder und an das Gefühl von Freiheit, vom ersten Schritt an, von Freude und Vorfreude.
Ich habe nichts gebucht, hoffe darauf, immer ein Bett zu finden, und das auch gerne mit Damast bezogen wie in den Schlosshotels Vorpommerns. Denn ich bin weder ein Holzach, der sich unter dem Motto „Deutschland umsonst“ durchs Land schnorrt, und schon gar kein Rüdiger Nehberg, der Regenwürmer grillt. Ich übernachte immer im besten Haus am Ort, wenn das auch oft das einzige Fremdenzimmer ist.
Im Kiefernwald zweigt vom Forstweg rechtwinklig eine breite Straße aus Teerplatten ab. Sie führt zur Waldsiedlung von Wandlitz: die Bonzensiedlung der DDR-Führung. Wo hat er nun gewohnt, der Honecker? Und: Wie stellt man so eine Frage? Wie wird ein Ostdeutscher reagieren, wenn ihm ein Westdeutscher damit kommt? Ist Wandlitz ein Tabu?
Wie in einem fernen Land gilt es, Regeln zu beachten. Der junge Mann in Badelatschen ahnt die Fragen, und beantwortet alle zugleich. Er ist Krankenpfleger, die Waldsiedlung wurde umgebaut zur Kurklinik. Bonzenvillen, wurde geflüstert, sie stehen als Sinnbild dafür, was den Arbeiter- und Bauernstaat regierte: Paranoia und Piefigkeit. Um die Siedlung zog sich eine Mauer, nicht so hoch wie in Berlin, doch des gleichen Geistes Kind. Die Staatsführung traute niemandem. Ich flüchte über die Mauer zurück in den Wald.
Die Idealroute nach Norden wäre eine Kombination aus Feld-, Wald- und Wiesenwegen. Von der Jugendherberge Wandlitz aus gibt es keinen idealen Weg. Die erste Stunde bis nach Klosterfelde geht es an der Straße entlang, das ist unangenehm in vielerlei Hinsicht: Autolärm im Ohr, Asphalt für die Füße und freundliche Autofahrer, die anhalten und einen mitnehmen würden. Doch wenigstens zeigt der schnurgerade Strich von der Straßenkarte in der Landschaft ein überraschend freundliches Gesicht: die erste Allee dieser Reise, ihr mächtiges Laubdach wölbt sich über den Asphalt.
Kurz vor Ruhlsdorf schiebt sich ein fremdes Element in die Natur. Ein Feld bis zum Horizont. Wogende Gerste im Sommerlicht. Ein LPG-Feld. Nun wird sich eine bäuerliche Genossenschaft mit diesem maßlosen Feld herumplagen. Vor dem bröckelnden LPG-Gebäude steht ein weißer Resopaltisch mit einem roten Plastikeimer. Bunte Sommersträuße werden angeboten und zwei krumme Landgurken dazu.
Am Finowkanal angeln zwei Buben. „Was gefangen?“ Mit fiebrigen Bewegungen fängt der dickere an zu kramen, zieht einen wohl ellenlangen Fisch hervor und sagt mit verschusseltem Stolz: „Also, wenn Sie das nicht als Monster bezeichnen wollen, haben wir wohl einen Fisch gefangen.“ Er wird bestaunt, was das denn sei. Ein Rapfen! Nie gehört. Was der Städter alles nicht weiß, oder ich jedenfalls, weiß nicht, dass in Flüssen nahe Berlin Speisefische leben, die Rapfen heißen. Reisen bildet.
Wieder im Wald, wieder allein. Ein rotes, nagelneues Auto hält mitten auf der Forststraße. Eine Frau steigt aus. Aber sie hält ja ein Messer in der Hand! Sie bückt sich augenblicklich neben ihrem Auto und fängt an herumzuwerkeln. „Gibt’s denn schon Pilze?“ Lieber blöd gefragt als stumm im Wald aneinander vorbeizugehen. Pfifferlinge, wunderschöne, schau’n Sie nur. Die Stelle kannte sie ja wohl schon. Jaja, sie sei ja von hier. „Dann kommen Sie wohl seit vielen Jahren hierher?“
„Jaja.“ Sie wird nicht immer in einem roten Auto zum Pilzesammeln gefahren sein. Es sei ihr gegönnt. Dennoch: Kein Mensch geht mehr von Ort zu Ort. Niemand geht zu Fuß von einem Dorf zum anderen, keiner denkt auch nur daran. Wozu auch? In Bayern erschrecken die Leute zwar nicht so, wenn einer mit einem Rucksack unterwegs ist, aber auch dort ist es nur noch Freizeitbeschäftigung, Sport. Die ureigenste Fortbewegungsart des Menschen, der aufrechte Gang, der Urimpuls der Menschwerdung, er kam in der Zivilisation aus der Mode. Die Menschheit ahnt nicht, was sie verpasst. Gehen befreit.
„Nur die ergangenen Gedanken haben Werth“, notierte Nietzsche, ein unermüdlicher Geher. Für nervöse Pinkel gibt es kaum Besseres. Das ruhelose Perpendikel der Gedanken schwingt aus im Rhythmus der Beine, der Kopf pendelt sich ein in sinnlosen Silbenfolgen. Zum Problemewälzen eignet sich das Gehen auch. Man hat alle Zeit, das Ding von allen Seiten zu betrachten. Hat man Glück, relativiert sich seine Größe, und Auswege zeigen sich.
Abend in Groß-Schönebeck. Pensionswirt Altermann hat Zeit und ist ohnehin kein Schweiger. Zu DDR-Zeiten habe er mehr verdient als jetzt. Er hatte sich im Garten Gewächshäuser gebaut, mit seinen Tomaten fuhr er nach Berlin, Ost, und verkaufte sie. Ab 1986 war das und illegal, „aber das scherte niemanden“.
Amüsiert beantwortet er Fragen zum Osten und stellt klar, so verschieden sei das nicht gewesen. „Morgens gab’s Frühstück, abends Abendbrot, wie im Westen auch.“ Die Cola hieß Clubcola, ansonsten war das Leben gleich wie jetzt. Letzteres revidiert er aber sofort. Nun regiere das Geld, das Zwischenmenschliche leide. Enttäuscht vom Westen ist er zudem. Die DDR habe sich mehr um die Leute gekümmert. Wenn einer durchhing, sagt Herr Altermann, dann sorgten die dafür, dass der nicht in der Gosse landete. „Der musste mal ein halbes Jahr Zementsäcke schleppen, dann wurde doch noch was aus dem.“ Er habe den Westen überschätzt, sagt er, da sei alles so nachgiebig.
Groß Schönebeck nennt sich Tor zur Schorfheide, diese ist ein riesiges Waldgebiet und umspannt eine geschichtsträchtige Vergangenheit. Erst die preußischen Könige ließen die innere Schorfheide urbar machen, bauten Jagdhütten und Jagdhäuser. Haus Hubertusstock am Werbellinsee schuf Friedrich Wilhelm IV. 1849. Jäger aller Herrschaftsklassen wechselten sich in der Schorfheide ab, auf die Kaiser folgte Herrmann Göring, ihm genügte das Jagdschloss nicht mehr, er ließ sich am Großen Döllnsee ein riesiges Anwesen bauen und nannte es Carinhall.
Honecker riss 1972 das kaiserliche Schloss ab und errichtete eine repräsentative Replik. 1983 überbrachte dort Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit, von Jägersmann zu Jägersmann. Noch im politisch hoch explosiven Herbst 1989, am 8. November, schoss Erich Honecker in der Schorfheide seinen letzten Rothirsch.
Morgennebel zieht über den Lotzinsee. Stille und Frieden. Die Schorfheide gehört nun dem Land Brandenburg. Herrschende, die hinter dem Rücken ihres Volkes im Wald herumballern und das Geld der Untertanen verpulvern, gibt es nun nicht mehr. Tagelang allein zu wandern bringt dich dem Wald näher.
Nur der Wald und du. Schon nach ein paar Tagen findest du deinen Rhythmus, im Leben dauert das länger. Anfangs tänzelst du leichten Schrittes und schnell, bald sieht man dich tapfer traben wie ein Islandpferd, dann bin ich ein Bauernpferd. Ich trotte vor mich hin. Immer wieder knute ich mich in die schnellere Gangart, falle aber immer wieder in den trägen Schritt. Aber das macht nichts, die Eile gehört in die Stadt, nicht in den Wald. Auch im unangestrengten Gehen schaffe ich bald dreißig Kilometer täglich, ohne Muskelkater, ohne Gliederschmerzen. Allein die Füße meutern, fette Blasen belästigen mich.
Von der menschenleeren Uckermark geht es ins nicht vollere Ostvorpommern, den dünnstbesiedelten Gegenden Deutschlands. Es kann einen ganzen Tag dauern, bis man zu Fuß von einem Dorf ins andere kommt. „Wenn ich Ihr Freund wäre, ich würde Ihnen das verbieten!“
Der auffällig Westdeutsche poltert am Tisch herum. „Haben Sie denn keine Angst?“, fragt weniger aufdringlich seine Frau. Aus dem Ruhrgebiet sind sie, machen eine Rundreise, waren gestern am Meer, nun logieren sie im Schlosshotel Schmuggerow. Ist das Auto auch wirklich sicher auf dem Parkplatz, fragt er noch mal die Kellnerin. Hier, so nahe an Polen! Und da laufen Sie alleine durch den Wald, grober Leichtsinn.
Er sieht aus, als hätte er an seinem Reihenhaus Selbstschussanlagen. Wie kann ein so dicker Bauch nur so voll mit Angst sein. Die Kellnerin wagt einen schüchternen Einwand. Das mit den Polen, das sei ja nicht so schlimm. Aber hier in der Gegend, da gebe es leider so viele Glatzen.
Seltsam, ich habe keine Angst. Stundenlang alleine im Wald, da drehe ich mich seltener um als nachts in Berlin in der letzten U-Bahn. Wer soll sich schon in diesen Wäldern aufhalten? Doch seit dem Satz der Kellnerin ist mir unwohl, mir fällt etwas ein: Wehrsportgruppen. Was, wenn mir so eine Horde auflauert?
Anklam gilt geradezu als Hort der Neonazis, prompt kleben an Laternenpfählen rechte Aufkleber. Ich möchte einen Apfel kaufen, finde aber keinen Gemüseladen und merke: Dies ist eine ausländerfreie Stadt. Eine Stadt ohne Frauen mit Kopftüchern und Kinderschar und ohne kleine Gemüseläden. Der schönste Teil der Reise ist vorbei.
Der Verkehr verdichtet sich, Lastwagen rollen Richtung Grenze, Urlauber Richtung Ostsee. Nur im Kopf sind sie noch, die stillen Wälder Vorpommerns, die einsamen Seen der Mark Brandenburg. Zehn Tage dauerte die Wanderung von Berlin ans Meer, zehn wundervoll klare, einfache Tage. Für jeden Tag gab es nur eine, genau umrissene Aufgabe: Gehe von A nach B.
Ich stehe zeitig auf, packe den kleinen Rucksack, frühstücke, gehe los. Am späten Nachmittag suche ich ein Zimmer, dusche, wasche meine Kleidung, gehe essen, studiere die Wanderkarte und schlafe tief und ruhig. Was für diese Wanderung gilt, macht auch extremes Bergsteigen und abenteuerliche Expeditionen so attraktiv: Das Ziel ist immer klar.
Willkommen auf Usedom. So steht es auf der mächtigen Zugbrücke in Wolgast, die natürlich hochgezogen ist und Schiffe passieren lässt. Noch verzögert sich also die Ankunft am Meer. Als ich dann unter dem Schild durchspaziere, juchze ich, ganz leise. Wahrscheinlich ist Usedom eine schöne Insel, auch im Hinterland. Aber ich sehe nichts davon, ich will jetzt ans Meer. Mit schnellem Schritt marschiere ich nach Trassenheide. Keine Fernsicht aufs Meer. Hinterm Ort wirft sich der Strand zur kiefernbestandenen Dünewelle auf.
Ein Durchschlupf, Menschen mit aufgeblasenen Gummitieren kommen mir entgegen. Ich haste durch den tiefen Sand, mit Wanderstiefeln fühlt sich das mehr nach Wüste an als nach Strand. Wären nur die vielen Menschen nicht. Ganz vorne ist das Meer. Ich lasse mich in den Sand fallen. Ich weine ein bisschen. Gibt es etwas Traurigeres, als nach zehn Tagen Wandern am Ziel anzukommen?
BARBARA SCHÄFER arbeitet als freie Autorin in Berlin