Im Cockpit des Normalen

Der Prophet Gottes ist zurück, und er hat auch seine Perücke und seine Videos dabei: Mit seinem neuen Stück „ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen“ holt Christoph Schlingensief die ganz großen Diskussionen um Realität und Transzendenz, Terrorismus und Ästhetik in die Berliner Volksbühne

von DETLEF KUHLBRODT

Schlingensief also wieder mal. Prima. Immer toll, diese großen Geschichten, wo die Aufführungen nur Teil einer größeren Geschichte waren. Euphorie, Zusammenbrüche, Intensitäten, ausufernde eklektizistische Konzepte.

Diesmal hatte man die vorbereitenden Maßnahmen – das „Attaismus-Seminar“ etwa, dass vom 2. 12. bis zum 20. 12. mit vielen Vorträgen kluger Leute in der Volksbühne stattgefunden hatte – irgendwie verpasst, und es blieb keine Zeit mehr, den Reader, der am Tag der Premiere von „ATTA ATTA – Die Kunst ist ausgebrochen“ rauskam, zu lesen. Nur kurz mal blättern, irgendwas finden und Sätze zitieren, die Schlingensief in einer Diskussion mit Peter Nadas und Frank-Patrick Steckel gesagt hat: „Der Attaist ist jemand, der sich hochgradig befriedigt, indem er die Gesellschaft durch die Lust an sich selbst durchbricht.“ Oder bezogen auf den 11. September: „Muss ein bildender Künstler ins Cockpit, damit das Ganze eine andere Bedeutung bekommt?“

„Atta, atta“ ist das, was Eltern in ihrer Seltsamkeit zu ihren noch sprachunkundigen Kindern sagen, so im Sinne von „lass uns jetzt mal atta, atta gehen“, wobei „atta, atta“ gehen meint und kein Mensch weiß, weshalb das so komisch auch noch in sich verdoppelt gesprochen wird für den sprachlosen kleinen Erdenbürger. Erst später fiel mir ein, dass Mohammed Atta der Name des Terroristen war, der ins WTC reinflog. Bei ATTA ATTA geht es wohl um Kunst, Ich, Infantilität, Realität und Transzendenz möglicherweise und wie sie aneinander leiden.

Dann gingen wir Richtung Theatersaal an der ersten Ausstellung der „Attaisten“ vorbei; Zelte, Flensbier-Flaschen, als Video lief ein Film mit Anthony Quinn: „Mohammed – Prophet Gottes“. Auf einem Zettel zum Stück war auch noch von einem „ATTA ATTA“-Film die Rede mit Hannelore Elsner, Otto Sander, Oskar Roehler und anderen; auf einem anderen stand: „Die ‚andere Welt‘ der Kunst kann nur daduch kommunizierbar bleiben, dass man Referenzen auf unsere eingeübte Welt kappt. Und der Betrachter, der im Normalen zu Hause ist, ist raffiniert. Man muss ihm jeden Weg zurück in seinen Alltag versperren und jede Vermutung unterbinden, dass der Künstler anderes im Sinn hatte als das, was das Kunstwerk zeigt.“

Schlingensief sprach diesen Satz. Er saß auf dem Sofa rechts auf der Bühne, mit anderen Freaks als Mitglied einer Künstlergruppe aus Prenzlauer Berg, die ihren Videofilm gern auf den Oberhausener Kurzfilmtagen gezeigt hätten. Schlingensief hatte eine schwarzhaarige Perücke auf, und der Satz ist wohl ein Zitat. Als man ihn hörte, fand man die Behauptung hypertroph, dass der Betrachter im Normalen zu Hause sein solle.

In der Mitte der Bühne zwei leere Räume, die an die von Pollesch im Prater erinnerten. Rechts eine zweite Sofawohnlandschaft, in der Werner Brecht mit Blindenbinde und die Eltern des Künstlers, Josef Bierbichler und Irm Hermann, saßen. Der Regisseur als Sohn von Fassbinder und Achternbusch also irgendwie auch … Ein Konzept schien zu sein, 40 Jahre Aktionskunst noch mal mit Blick auf den 11. September durchzuspielen – Damien Hirst, Beuys, Hermann Nitsch usw. Als Actionpainter zerstört Schlingensief das Bild, dass er gerade gemalt hatte, steht mit heruntergelassener Hose vor den Eltern, onaniert unter dem zerstörten Bild. Dietrich Kuhlbrodt kommt als Hermann Nitsch daher, spielt die meiste Zeit im tigergemusterten Slip und ist gleichzeitig Leiter eines seltsamen Campingplatzes oder Ausbildungslagers einer panislamistischen Front. Schönes Bühnenbild. Ein halbes Schwein fällt auf die Bühne. Scheiße spielt eine größere Rolle. Der Künstler vergewaltigt seine Mutter. Im Kopf blinken die Fragezeichen. Einerseits scheint das Stück – ungewöhnlich für Schlingensief – so abzulaufen wie geplant, andererseits wirkt alles extrem disparat; vor allem gibt es keine Kommunikation zwischen Zuschauern und Bühne, keine Intensität, die das alles zusammenhalten könnte, am Ende nicht mehr lauter Beifall versus entschlossenes Buhen, sondern fleißig bemühter Beifall. „Er hat mich nicht gesehen, ich hab ihn nicht gesehen“, meint die Kollegin und: „Es hat nichts mit mir gemacht.“ – „Genau!“ Andererseits spielte das Stück später in meinen Albträumen eine tragende Rolle.