bücher für randgruppen : Disability Studies
„Die Federzeichnungen des Patienten O.T.“ lautete der Titel eines 1974 erschienenen Buches, in dem der österreichische Psychiater Leo Navratil die künstlerischen Werke eines seiner Patienten vorstellte. Genial war der Titel, weil die Bezeichnung O.T. in der Kunst sowohl „ohne Titel“ bedeutet als auch das Namenskürzel des Patienten Oskar Tschirtner ist, den Navratil so „anonymisiert“. Eine Zeichnung dieses Patienten und Künstlers schmückt das Cover eines Buches, welches erstmals dem deutschsprachigen Raum einen Einblick in die Disability Studies bietet. Während einige Kunstkritiker wünschen, die von Harald Szeemann 1972 auf der documenta 5 eingeleitete Öffnung der Kunst in die „kunstfremde“ Welt der „psychisch Kranken“ müsse begrenzt werden, forschen diese Welten bereits nach den sie umgebenden Begrenzungen. Manch Unbehinderter gerät dadurch völlig aus dem Gleis, fordert neue Mauern, den Schutz der „Schutzbedürftigen“, was ja nichts weiter heißt als erneute Ausgrenzung.
Im Zentrum der Auseinandersetzung von Markus Dederichs Einführung in die Disability Studies finden sich der „außerordentliche Körper“ und die Prozesse seiner Entstehung, seine Präsentation und Transformation im Zusammenhang kultureller Deutungsmuster und institutioneller Praktiken. Deutlich wird, dass das seit 200 Jahren im europäischen Kulturraum existierende Inklusionsangebot gleichzeitig seine Ausschlüsse produziert, wozu die rund 10 Prozent als „behindert“ geltenden Menschen zählen. Im Gegensatz zu den USA und England ist die Disziplin der Disability Studies hierzulande sehr jung. Ein guter entsprechender Begriff fehlt, „Behindertenstudien“ klingt ja ziemlich furchtbar. Die Ursprünge der Disability Studies liegen in den Gruppen, die begannen, der Diskussion, die nicht mit ihnen, sondern über sie geführt wurde, etwas Eigenes entgegenzusetzen. Statt sozial-karitativem Verständnis wurde „Behinderung“ als Form einer komplexen sozialen Unterdrückung verstanden. In Deutschland waren die radikalen „Krüppelgruppen“ Vorläufer dieser Bewegung. Dederich skizziert die methodischen Unterschiede zwischen den USA und England und zeigt, dass sich in der Folge in den USA eine regelrechte Rehabilitationsindustrie entwickelte: Behinderung als Milliardengeschäft. Da Behindertsein Heilung ausschließt, so der Autor, stellt es in gewisser Weise eine Beleidigung bestimmter Aspekte der Mentalität westlicher Kulturen dar. Von der amerikanischen „Freak“-Show bis hin zu den Bezügen zur Biowissenschaft verläuft dieser interdisziplinäre Exkurs.
Gespickt mit zahlreichen Beispielen vermittelt er einen ausführlichen ersten Einblick. Deutlich wird, dass die Geste, die Christoph Schlingensief mit dem Auftritt seiner behinderten „Freaks“ oder der vollständig gelähmten Angela Jansen demonstrierte, ein Kunstkonzept war: Angesichts seiner eigenen schweren Erkrankung beweist der Künstler mit rechtsanwaltlicher Unterstützung, dass ein angegriffener Körper auch das Recht auf Nichtöffentlichkeit hat. Kunst und Leben sind also nicht eins. Der Künstler Gregor Schneider, der jüngst großkotzig ankündigte, einen sterbenden Menschen – einen „Freiwilligen“, wie er betonte – in von ihm gestalteten Räumen auszustellen, hat das offensichtlich noch nicht kapiert. Also lauschen wir zuerst mal unserem eigenen Körper und entscheiden dann. Dabei kann dieses wichtige Buch helfen. WOLFGANG MÜLLER
Markus Dederich: „Körper, Kultur und Behinderung“. transcript Verlag, Bielefeld 2007, 206 Seiten, 20,80 Euro