: Kampfansage ans Knuspergift
Till Hasenzahl sieht nicht gerade erholt aus. Er arbeitet seit Wochen nie weniger als zwölf Stunden täglich. Der 34-jährige kommt jeden Morgen gegen zehn ins Büro und verlässt es erst wieder kurz vor Mitternacht. Er sagt: „Es gibt noch so viele Fragezeichen. Die müssen gelöst werden.“
Acrylamid hat das Labor ins Rotieren gebracht. Seit Monaten tauchen immer wieder Meldungen darüber auf, in welchen Lebensmitteln der Stoff enthalten ist. Erst am Wochenende wurde über Acrylamid in Kosmetika berichtet. Es ist aber keiner der Lebensmittelskandale vom Typ BSE oder Nitrofen. Denn verantwortungslose Panscher lassen sich nicht so einfach ausmachen, niemand, auf den die Verbraucher ihren Zorn konzentrieren könnten. Keiner lässt fahrlässig diesen Stoff entstehen, der sich beim Backen, Braten und Fritieren so vieler Lebensmittel bildet. Pommes frites, Kekse, Knäckebrot, es sind so viele Produkte, dass man sie unmöglich alle aus dem Verkehr ziehen kann. Klar ist jedoch: Acrylamid hat sich im Tierversuch als Krebs erregend erwiesen.
Im April bekamen Till Hasenzahl und seine Kollegen vom Naturwissenschaftlichen Forschung- und Untersuchungslaboratorium in Berlin-Lankwitz die ersten Anfragen, seit Mai haben sie rund 1.000 Lebensmittel getestet. Täglich kommen neue Anfragen, die Maschinen laufen ununterbrochen, ein Test folgt dem nächsten, vier Leute wurden zusätzlich eingestellt. Chemiker wuseln durch die Gänge, die Räume brummen.
Hasenzahl hebt ein Reagenzglas hoch. Darin sind unappetitlich zermatschte Apfelchips, mit „deuteriertem Acrylamid angereichert“, wie der Lebensmittelchemiker sagt. Wasser dazu, das ganze bromieren, dann zwei Tage stehen lassen. Danach kann er erkennen, wieviel natives, also „echtes“ Acrylamid ein Lebensmittel enthält.
Im April 2002 hörten die Forscher das erste Mal von schwedischen Kollegen, dass Acrylamid nicht nur von Verpackungen auf Nahrungsmittel übergehen kann, sondern auch in Lebensmitteln selbst entsteht. Schnell war klar, dass das Labor das Phänomen untersuchen wollte. Die Forscher entwickelten ein Acrylamid-Analyseverfahren, das dieses Jahr als Erstes lizenziert wird.
Die Chemiker fragten sich auch, warum vorher nie jemand den Krebs erregenden Stoff in Frittiertem und Gebackenem gefunden hatte. Immerhin lieben die Menschen seit Jahrzehnten alles Knusprige. Aber vorher hatte einfach niemand nachgesehen, und die Schweden entdeckten das Acrylamid durch Zufall in Nahrungsmitteln, die nie mit einer acrylamidhaltigen Verpackung in Berührung gekommen waren. Auch Hasenzahl überraschte die schwedische Studie. Nun hofft er, dass sich die Verbraucher mehr mit dem Problem beschäftigen: „Die Leute haben zwei Haltungen. Entweder sie sagen, die Menschen essen das schon immer und da ist noch keiner dran gestorben. Oder sie fallen ins andere Extrem und sagen, man könne ja gar nichts mehr essen.“
Der Chemiker zitiert eine Zahl der Weltgesundheitsorganisation. Diese habe hochgerechnet, dass jährlich bis zu 100.000 Menschen an Krebs, verursacht durch Acrylamid, sterben. Deshalb arbeitet Till Hasenzahl so viel.
Auf Matthias Wolfschmidts Visitenkarte steht „Strategie“. Der 37-jährige sammelt alles über Acrylamid, um dann sowohl die Verbraucher zu informieren als auch die Hersteller dazu zu bewegen, ihre Acrylamid-Werte zu senken. Das ist die Strategie der Organisation Foodwatch. Wolfschmidt ist einer der nur fünf Foodwatcher. Ihre Zentrale in Berlin-Mitte ist übersichtlich: ein großes Empfangszimmer, ein Konferenzraum und zwei Büros. Auf Wolfschmidts Tisch steht ein Blumenstrauß, auf dem Boden liegen vollgestopfte Ordner.
Die Organisation hat sich im Oktober gegründet, um die Menschen vor gefährlichem Essen zu retten. „Wir kämpfen für Transparenz im Angebot und gegen verklärende Inhaltsangaben.“ Matthias Wolfschmidt redet sich warm: „Das Bild vom tumben Lebensmittelverbraucher scheint ziemlich weit verbreitet. Wenn man Acrylamid mal mit dem Elchtest der Mercedes-A-Klasse vergleicht, sieht man, wie verantwortungslos hier umgegangen wird.“ Als der Mercedes in einer Kurve umkippte, nahm Daimler alle Modelle vom Markt, stoppte die Produktion und überarbeitete das Auto.
Bei Lebensmitteln setzen die Hersteller hingegen darauf, dass sowieso gegessen wird. „Da kriegt man das Gefühl, die verarschen uns. Die Strategie der Regierung ist für die Industrie absolut risikofrei, die riskieren gar nichts. Und ist hochgradig ignorant gegenüber Verbraucherinteressen.“ Renate Künasts Verbraucherministerium reagierte auf die Acrylamid-Meldungen mit einem „Minimierungskonzept“, bei dem die Hersteller der am stärksten belasteten Produkte angesprochen werden, damit sie ihre Werte senken sollen. Allerdings ohne Zwang. Dagegen will Matthias Wolfschmidt, dass es einen Grenzwert gibt, der sich an den niedrigsten gemessenen Werten orientiert. Matthias Wolfschmidt beschäftigt sich den ganzen Tag mit einem Thema: Lebensmittelskandale. Der Tiermediziner ist begeistert von seinem Job: „Hier geht es eben mal nicht um irgendein sophisticated Thema. Wir kämpfen nicht nur für die Fundamental-Ökos, sondern auch für den gedankenlosen Konsumenten. Wir haben die radikale Verbrauchersicht, wir sind unabhängig von allen Zwängen, müssen politisch oder wirtschaftlich keine Rücksicht nehmen.“ Die Franzosen und die Italiener hätten mehr „Ernährungsbildung“. Hier würde mehr Geld für das Essen ausgegeben und mehr Wert auf Qualität und Geschmack gelegt. Deutschland sei, was das angeht, ein Entwicklungsland.
Matthias Wolfschmidt will, dass das Projekt Foodwatch bald groß wird. Und irgendwann, wenn dann die Verbraucher so ernst genommen werden, wie er das will, wenn alle Produzenten stolz darauf sind, dass sie gesunde Produkte verkaufen, dann ist Foodwatch überflüssig und kann wieder zumachen. „Vielleicht wenn ich 70 bin.“
Elisabeth Wrotzek steht hier seit 17 Jahren. An der Puttkamer Straße in Berlin-Kreuzberg, gleich neben der Polizeiwache. In ihrer Bude stapeln sich an der Wand die Getränkebüchsen, draußen kleben die Bilder des Speisenangebotes, die an jedem Imbiss kleben. Die Pommesbude ist alt und verwittert. Oben steht in blauen Großbuchstaben „IMBISS“.
Weil es kalt ist, sind die Fenster geschlossen. Man muss klopfen, Elisabeth Wrotzek öffnet, man fühlt sich willkommen. Sie sagt, dass sie nichts von Acrylamid weiß. Oder doch, im Fernsehen hat sie mal davon gehört. Aber das ist ihr egal. Sie sagt, wichtig sei sowieso nur, dass das Fett immer frisch sei. Sie wechselt es alle zwei Tage. Und benutzt nur Pflanzenfett. „Die Türken nehmen dasselbe Fett zwei Wochen“, sagt sie. „Außerdem wird das erst giftig, wenn man mehr als 180 Grad nimmt. Ich nehm weniger. Meine Pommes sind gut.“
Elisabeth Wrotzek isst selbst ein oder zwei Portionen Pommes am Tag. „Ich muss achtgeben wegen dem Gewicht. Aber mein Vati isst jeden Tag eine so große Schüssel voll“, sagt sie und formt mit den Händen einen Kreis, der eine beachtliche Menge vermuten lässt. „Der ist 85. Er isst nur meine.“
Es ist noch nicht ganz Mittag, doch Maria hat schon Hunger, sie bestellt eine Portion Pommes. Mit ganz wenig Mayo bitte. Maria steckt in einem Motorradanzug, die Füße in schweren Stiefeln, die blonden langen Haare zum Zopf gebunden. Sie ist gut gelaunt, erst beim Thema Politik wird sie verbittert. „Das mit dem Acrylamid ist eine schlimme Sache. Vor allem wird es wie alles in der Politik verheimlicht, verdrängt und verschwiegen. Wenn ich einmal im halben Jahr Pommes esse, dann hier. Die sind richtig lecker. Da muss ich mir auch keine Sorgen machen, dass da was drin ist.“ Bei den Buden auf dem Markt weiter die Straße runter stinke es immer, das könne ja nicht gut sein.
„Elisabeths Pommes sind die besten“, sagt Maria, da könne sie stolz sein. Elisabeth Wrotzek strahlt mit ihren 52 Jahren wie ein junges Mädchen, dem man sagt, dass es hübsch ist. Ihre Augen leuchten und sie wird auch ein bisschen rot. Schnell fängt sie an zu reden. Es sei wichtig, frische Kartoffeln zu kaufen. Sie kauft beim Großhändler die teuren. „Und sie müssen gold sein.“ Sie dreht sich um, holt eine Pommes aus dem Sieb. Tatsächlich: eine perfekte goldene Pommes, als wäre sie nicht echt.
Marias Portion ist fertig, Elisabeth Wrotzek kleckst ein wenig Mayo drauf und wünscht einen „Guten Appetit“. Die Kunden würden wegen Acrylamid nicht wegbleiben, sagt sie energisch. Sie habe ihre Stammkunden. Von der Polizeiwache und dem Arbeitsamt nebenan seien viele dabei, die kommen mehrmals in der Woche. „Denen schmecken meine Pommes. Nein, wegen dem Gift muss sich bei mir keiner Sorgen machen.“