Dem Nichts eine Stimme

Extreme, minimale Musik, die am Rande der völligen Stille schwankt: Die Berliner Gitarren-Improvisatorin Annette Krebs betreibt mit ihrer Musik Grundlagenforschung in den Grenzbereichen der menschlichen Wahrnehmung. Ein Porträt

von THOMAS WINKLER

Annette Krebs ist dort daheim, wo für die meisten Menschen Musik lange schon nicht mehr Musik ist. Sehr viel mehr daheim jedenfalls als in dieser notdürftig möblierten Zweizimmerwohnung im Prenzlauer Berg, die sie vorübergehend ihr Zuhause nennen darf. Es ist eine Umsetzwohnung, die sie sich sonst kaum leisten könnte. Musik zu machen, die für die meisten Menschen keine Musik ist, ernährt die Frau eher schlecht als recht.

Krebs betreibt mit ihrer Gitarre Grundlagenforschung in den Grenzbereichen der menschlichen Wahrnehmung. Das englische Magazin Wire, weltweites Zentralorgan für seltsame Musiken, beschrieb ihre Werke als „extreme, minimale Musik, die am Rande der völligen Stille schwankt“. Tatsächlich gibt es auf ihrem letzten Album „Guitar Solo“ minutenlange Sequenzen, in denen nichts Hörbares passiert. Man hört trotzdem, lauscht, hört weiter, und wenn man lange genug und intensiv genug hört, dann stößt man auf eine Stimmung, auf eine Atmosphäre, auf kleinste Veränderungen des Raumklangs, ein entferntes Knistern, ein Geräusch, von dem man nicht sicher sein kann, ob es überhaupt existiert.

In solchen Momenten gibt Annette Krebs dem Nichts eine Stimme. Dann wieder zerfetzen Klänge die Ruhe, die Gitarre heult auf wie eine verletztes Tier, ohne aber jemals auch nur im Entferntesten an die aus der Rockmusik bekannten Gefühlsbebilderungen zu erinnern. Dazu benutzt Krebs eine herkömmliche akustische Gitarre, die sie beim Spielen wie ein Steel-Gitarrist flach auf ihren Schoß legt, ein Mischpult und zwei Tonabnehmer. Sie bearbeitet ihr Instrument mit Drahtwolle, Q-Tips, Geigenbogen, einem Propeller, Schlagzeugstöcken, einem altertümlichen Eierschneider, oder sie klemmt mit Büroklammern die Saiten ab. So erzeugt sie Klänge, die so weit wie nur denkbar von jedem Gitarren-Klischee entfernt sind. „Was kann ich mit der Gitarre erforschen?“, fragt sie, „was kann ich noch spielen? Da ist es eine logische Entwicklung, zum Geräusch zu kommen. Diese Geräusche haben dann wieder ihre Gesetzmäßigkeiten, und die versuche ich zu analysieren.“

Dem Einwand, ihre Musik klinge eher so, als lehne sie jede Form von Regelwerk ab, entgegnet sie: „Diese Musik benutzt ein Vokabular, das viele Leute nicht kennen und deshalb denken, das sei wahllos. Aber es gibt Gesetze. Ich mache die Gesetze nicht, ich folge ihnen nur.“

So hat sie sich laut Wire „in die erste Reihe an Gitarren-Improvisatoren katapultiert“. Dort, in der ersten Reihe, sorgt sich Krebs um Prinzipielleres: „Es gibt sehr viele Fragen in der Musik, die ich und andere zu lösen versuchen.“ So grundsätzlich sind diese Fragen, dass ihre Musik nicht mal einen Namen hat. Für Krebs ist es „zum Großteil eine Mischung aus Komposition und Improvisation, aber das ist an sich nichts Neues, das gab es schon bei Bach. Die strenge Trennung zwischen Komposition und Improvisation ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts.“ Es sind Fragen wie: Welchen Ton spiele ich wann? Wie lange? Und: warum? Oder auch: Was ist schön? Soll ich die Realität reflektieren? Oder etwas daneben setzen? „Auf diese Fragen“, sagt sie, „werden immer neue Antworten gefunden werden. Und sobald die gefunden sind, kommen automatisch neue Zweifel und Fragestellungen. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals mit dieser Arbeit fertig zu werden.“ Am ehesten könnte man das, was auf der Suche nach der Antwort auf diese Fragen entsteht, als abstrakte Musik bezeichnen.

Mit der begann die vor 36 Jahren im Saarland geborene Krebs während ihres klassischen Musikstudiums in Frankfurt am Main – und war damit die Einzige an der gesamten Hochschule. „Es gab nur einen Lehrer, der sich dafür interessiert hat“, erzählt sie, „der Rest war auf Reproduktion ausgerichtet, die empfanden das eher als Bedrohung.“ Eine Reaktion, die ihre Musik auch heute noch auslöst. Bei einem Großteil der Bevölkerung allerdings würden Krebs’ Klänge wohl vor allem Kopfschütteln auslösen. Dabei empfindet sie selbst ihre Musik mitunter gar als „zu privat, um sie zu veröffentlichen, weil sie die Essenz einer Zeit ist, die ich erlebt habe“. Erst als sie vor zehn Jahren nach Berlin kam, entdeckte sie, dass sehr wohl noch andere Menschen denselben dunklen Kontinent erforschen. So spielt sie längst nicht mehr nur als Solistin, sondern im Duo mit Andrea Neumann, die ihr Klavier umgebaut hat und nun von innen spielt, dem japanischen Gitarristen Taku Sugimoto, dem Saxofonisten Alessandro Bosetti oder im Quartett mit Musikern aus Wien. Immer wieder tritt sie auch auf mit dem neunköpfigen Ensemble Phosphor.

In welcher Besetzung auch immer, hierzulande spielt sie in Berliner Clubs wie Raumschiff Zitrone oder KuLe vor selten mehr als 40 Zuhörern. Ihre Platten erscheinen auf Kleinstlabels in Italien, liebevoll verpackt in Pappschubern, von der Künstlerin höchstselbst verziert mit einem Aquarell. Andererseits ist sie schon drei Wochen durch die USA getourt und dort jeden Abend in Clubs oder Universitäten aufgetreten. Regelmäßig wird sie zu Festivals für Neue Musik eingeladen. Trotzdem eine „sehr ungesicherte Existenz“, das weiß sie selbst, „ich brauche für diese Musik sehr viel Zeit, ich brauche alle Zeit, die da ist, und keine Minute weniger“.

In den nicht mal 47 Minuten „Guitar Solo“, von denen womöglich mehr als die Hälfte daraus besteht, was andere als Stille bezeichnen würden, steckt die Arbeit von zwei Jahren. Ausreichend Zeit für einen langen Weg, an dessen Ende Musik steht, die für die meisten Menschen keine Musik mehr ist.

Annette Krebs: „Guitar Solo“ (www.fringesrecordings.com); Taku Sugimoto, Annette Krebs: „Eine Gitarre ist eine Gitarre ist keine Gitarre ist eine Gitarre?“ (rossbin@libero.it) CDs bei Gelbe Musik, Schaperstr.11, oder im Internet: www.metamkine.com, www.charhizma.com. Live-Termine unter: www.echt