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Archiv-Artikel

berliner szenen Frühlingserwachen

Lieber sterben mit Buzz

Manche Tage im Winter sind seltsam schön. Draußen ist zum Beispiel plötzlich Sonne, ein paar Vögel tschilpen am Rande, und für einen kurzen Moment fühlt man sich wieder wie ein Teenager und denkt an die Siebzigerjahre zurück, als man so 16 war. Damals pflegte man den ersten Wintertag, in dem schon ein paar Frühlingsandeutungen lagen, mit kleinen Ritualen zu begrüßen. Ein paar Sekunden blieb man stehen auf dem Bahndamm, machte die Augen zu, hielt das Gesicht in die Sonne und fuhr freihändig von der Schule zurück nach Hause. Dann machte man sich grünen Tee, um den Helden der Romane von Jack Kerouac zu ähneln, die auch ständig grünen Tee getrunken hatten, legte eine Platte auf und setzte sich in das offene Fenster, in das gegen Mittag Sonne reinfiel. Die Eltern waren noch auf Arbeit und die Mischung aus kalter Luft, warmer Sonne und lauter Musik stimmte einen sehnsüchtig.

Eigentlich war alles, was man damals hörte, von früher. Deep Purple zum Beispiel, deren beste Platten zwischen 1968 und 1973 erschienen waren. Oder Jefferson Aiplane, eine oft unterschätzte Psychedelikbeatgruppe, die auch gerade beim netten Nachbarn laufen. Komisch, wenn man Sachen von früher noch einmal hört: Manchmal findet man es unerträglich, wie Silvester, als Freunde plötzlich begannen, zu „Sex Machine“ zu tanzen, dem allerschlimmsten Lied der Welt. Manchmal ist man auch sehr begeistert und hört noch einmal alle Platten durch. Dann versteht man überhaupt nicht mehr, wie es jemand für einen gelungenen Tod mit Distinktionsgewinn halten kann, mit Michael Jackson in einer Concorde abzustürzen. Dann schon eher auf den billigen Plätzen mit Grace Slick in einer Buzz-Maschine!

DETLEF KUHLBRODT