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Archiv-Artikel

Vorsprung durch Diamanten

Besinnt man sich auf zeitlose Werte wie Skills und noch mal Skills, hat weit und breit wohl kein zweiter Rapper die Klasse des ehemaligen Crack-Dealers Shawn Carter, besser bekannt als Jay-Z. Trotzdem fügte er in Berlin nur ein weiteres Beispiel in die endlose Reihe enttäuschender HipHop-Konzerte ein

Vertonte Soziologie-Reader sind eben auf Dauer nicht tanzbarDoch dann folgt, was folgen muss. Der Sound ist schlecht, die Mitstreiter schlechter

von CORNELIUS TITTEL

Keine drei Jahre ist es her, da konnte man im weltbekannten Kölner HipHop-Spezialgeschäft Groove Attack eine Szene beobachten, die nicht nur entfernt an den legendären Kondome-Schützen-Spot mit Hella von Sinnen erinnerte: Geschäftiges Treiben allerorten, Platten werden vorgehört – business as usual, bis ein verschüchterter Kunde mit der Bitte um R. Kelly’s und Jay-Z’s „Fiesta“ an eine der Fachkräfte herantritt. Eine Bitte, die – lautstark an einen anderen Kollegen weitergeleitet – prompt dazu führt, dass sämtliche Gespräche im Raum verstummen und wirklich jeder einen ratlos angeekelten Blick auf den armen Irren wirft, als hätte dieser gerade im Antifa-Buchladen nach der Jungen Freiheit gefragt.

Times are changing. Inzwischen müsste auch der letzte HipHop-PC-Stalinist gemerkt haben, dass vertonte Soziologie-Reader auf Dauer nicht tanzbar sind. Und dass, besinnt man sich auf zeitlose Werte wie Skills, Skills und noch mal Skills, weit und breit wohl kein zweiter Rapper die Klasse des ehemaligen Crack-Dealers Shawn Carter, besser bekannt als Jay-Z, erreicht. Selbst das bürgerliche Feuilleton scheint ihn dieser Tage ins Herz zu schließen und beginnt, die Geschichten von Ehre und Ruhm, kaltblütigen Verbrechen, maßlosem Sex und unwahrscheinlichem Reichtum als das zu würdigen, was sie sind: Breitwand-Entertainment de luxe, Scarface im bouncenden Audio-Format, kurz: alles andere als Kleinkunst.

Und auch wenn sein neues (Doppel-)Album „Blueprint 2“ nicht die Klasse des unantastbaren Vorgängers erreicht, beeindruckt allein die statistische Auswertung seines protestantischen Arbeitseifers: Sieben Gold- und Platin-Studio-Alben in sieben Jahren, Gemeinschaftsarbeiten mit R. Kelly („The Best of Both Worlds“), Live-Alben mit den Roots („MTV Unplugged“) sowie zahlreiche Soundtracks und Compilations nicht mitgerechnet. Die eigene Plattenfirma Roc-A-Fella Records und sein Sportswear-Imperium Roc-A-Wear haben knapp 400 Millionen Dollar Jahresumsatz, und seine Filmproduktionsfirma Roc-A-Movie landet mit „Paid in Full“ gerade einen Überraschungshit an den amerikanischen Kinokassen. Nur den US-Erfolg der soeben aufgekauften schottischen Wodka-Marke „Armadale“ muss Shawn Carter noch abwarten.

Längst taucht der 32-jährige „King of corporate rap“ (The New Yorker) in den Listen der bestverdienenden Amerikaner auf, reist im exquisit getäfelten Privatjet um die Welt und wird in seiner Heimat gefeiert, als sei er eine Kreuzung aus Michael Jordan, Muhammad Ali und Notorious B.I.G. Trotzdem hätte man Sonntagabend in Berlin in der fast ausverkauften Columbiahalle jeden der eben Genannten lieber gesehen, handelte es sich doch nicht um eine gepflegte Aktionärsversammlung mit Hostessenservice, Kanapees und wahnwitzigen Geschäftsprognosen, sondern um ein weiteres Beispiel aus der endlosen Reihe enttäuschender HipHop-Konzerte. Nachdem die Neptunes-produzierte Vorband The Clipse, die euphorisierte Fangemeinde mit „Where my moneymakers at?“-Rufen schon vorab dem Roc-A-Fella-Eignungstest unterzog, betrat Jay-Z das auf Hotelbar getrimmte Bühnenbild – schlaksig, im blütenweißen XXL-Shirt und baggy-jeans: ganz der street gebliebene Millionärs-Sympath. Nur die schmale, eindrucksvoll bis in den letzten Winkel der Halle funkelnde Diamantenkette demonstrierte den entscheidenden Unterschied zwischen ihm und dem Publikum.

Ein paar Schritte nach rechts sowie ein legerer Gruß in die oberen Ränge werden entschieden beklatscht – selbst sein Versuch, die auf Halbmast hängende Hose hochzuziehen, geht im Jubel der Massen unter. Doch dann folgt, was folgen muss. Der Sound ist schlecht, seine Mitstreiter Memphis Bleek und Beanie Siegel schlechter. Man stelle sich vor, Frank Sinatra hätte statt Dean Martin und Sammy Davis Jr. zwei arbeitslose Studienkollegen mitgebracht, nur weil ihm diese aufgrund ihrer akuten Talentlosigkeit nicht die Show gestohlen hätten. Und dann, nach einer Stunde, den größten Hits und Texten, die auf halber Strecke zwischen Mikrofon und Ohr hängen bleiben, ist auch schon Schluss. Nicht mal Merchandising-Stände – in Jay-Z’s Jahresendabrechnung ein zu vernachlässigender Posten – bleiben vor dem Weg nach Hause.

Und so macht die Neuigkeit des Abends durchaus Sinn: Jay-Z, so erfährt man im NME, wird mit der kommenden Platte – größenwahnsinnig angemessen „The Black Album“ betitelt – seine Musikkarriere beenden. „I’m so far ahead of my time, about I start another life“ rappt er schon auf seiner aktuellen Platte. Live wirkt es, als hätte er das neue Leben längst begonnen. Was bleibt, sind Rap-Klassiker und eine Erfolgsgeschichte, die noch mancher seinen Enkeln erzählen wird.