Narkose des Herzens

Die unglückliche Liebe des Professors Hubertus van Grooten und das Hirn Dieter Bohlens

Heute hatte der Professor nicht seinen besten Tag, das spürte Schwester Jessica sofort

Die beiden Gebäude der Universitätsklinik Fulda schmiegten sich harmonisch in die Hügellandschaft, die von der Morgensonne mit goldenen Strahlen umfangen wurde. Außer vereinzelten Hustenattacken, die aus den Zimmern drangen, störte kein Laut den morgendlichen Frieden.

Nur im Operationssaal herrschte schon geschäftiges Treiben. Professor Hubertus van Grooten bereitete sich auf eine schwere Operation vor. Sein Patient war kein geringerer als Dieter Bohlen, dem er die Raucherecke des Kleinhirns operativ entfernen wollte – sein Spezialgebiet. Äußerste Konzentration war in den nächsten Stunden erforderlich. Der Professor sammelte sich, er war bereit. Dann fiel sein Blick auf Schwester Jessica. Keine Knitterfalte entstellte ihre kirschblütenweiße Kittelschürze. Einmal mehr wurde dem weltberühmten Chirurgen schmerzlich bewusst, mit wie viel Geschmack Schwester Jessica sich zu kleiden verstand. Ach, wie liebte er es, ihr versonnen nachzublicken, wenn sie engelsgleich durch die weitläufigen Flure des Klinikums schwebte …

Mit letzter Willensanstrengung riss sich der Professor aus seinen süßen Betrachtungen: „Schwester, den Aschenbecher!“ Seine Stimme war leicht ungehalten. Schwester Jessica beeilte sich, ihrem Chef das sterile Raucherbesteck zurechtzulegen. Der Professor schätzte es gar nicht, wenn die wichtigsten Utensilien fehlten. Nervös sog er an seiner Zigarette, während Dieter Bohlen allmählich in die Narkose hinüberglitt. Als Nikotin-Spezialist musste Professor van Grooten die Tabakwaren genau kennen, und ein tiefer Lungenzug inspirierte ihn immer wieder zu außergewöhnlichen operativen Leistungen. Jetzt drückte er den Stummel in der rechten Hand des Patienten aus: „Eine wirksamere Kontrolle der Narkose gibt es nicht“, dozierte er in Richtung Schwester Jessica. Dann griff er zur Säge und kappte Bohlens obere Hirnschale.

Privat war van Grooten ein durchweg sensibler, allem Musischen zugewandter Schöngeist, doch am Operationstisch blitzte das Raubtier im Menschen auf und verwandelte den charmanten Unterhalter örtlicher Abendgesellschaften in einen eiskalten Chirurgen, dessen ansatzlos vorgetragene Schnittkombinationen ihm den Ruf eines Magiers des Skalpells eingetragen hatten.

Doch heute hatte der Professor nicht seinen besten Tag, das spürte Schwester Jessica sofort. Van Grootens sonst so sichere Schnittführung war einer blutigen Unentschlossenheit gewichen. Zerfahren hantierte der Professor mit dem Skalpell. Den Grund aber kannte Schwester Jessica nicht. Lag doch Hubertus van Grootens Herz in ihren Händen! Was hatte er der begabten Jungschwester über die Jahre nicht alles gegeben? Bei ihm ging sie durch die hohe Schule der Anästhesie. Ihr sich zu offenbaren, ihr das Geheimnis seines Herzens mitzuteilen, wagte der Professor jedoch nicht. Zu groß dünkten ihn, den 69-jährigen, noch sehr rüstigen Akademiker, die Unterschiede des Alters und des Standes. Ach, wäre er nur der Stimme seines Herzens gefolgt, anstatt sich von dem schlechten Ratgeber seiner allzu kühlen Ratio leiten zu lassen!

Hubertus van Grooten zwang sich, den Realitäten unerschrocken ins Auge zu blicken. Ihr Herz gehörte einem andern, das fühlte er, ohne dass es dazu besonderer Worte bedurft hätte. Er wusste nur nicht, wem. War es Röntgenassistent Klaus Brungs, der ihre geheimsten Wünsche durchleuchtet hatte? Oder war es Heiko Schrempf, der Hypnose-Spezialist und talentierte Psychodramatiker, der sie mit bedeutungsvollen Blicken gefügig, ja willenlos gemacht hatte? Die Zweifel, die wie räudige Ratten an des Professors Nervensträngen genagt hatten, verließen allmählich das sinkende Schiff seiner geistigen Gesundheit.

Hubertus van Grooten rief sich innerlich zur Ordnung und setzte zum alles entscheidenden Schnitt an. Das Skalpell drang tief in Bohlens Hirn vor. Die Assistenzärzte reckten sich, um alles sehen zu können. Monoton piepten die Maschinen. Schwester Jessica hielt den Atem an.

AaaaaooooAaaaaoooo!! Plötzlich schrillte die Sirene los: Beginn des Ärztestreiks! Das vereinbarte Signal! Van Grooten zuckte. Das Skalpell versank noch tiefer in Bohlens Hirn. Mitten hinein ins Libidozentrum. Schwester Jessica schrie auf. Und im selben Moment wusste Professor van Grooten, dass die Operation gescheitert und doch erfolgreich war. Bohlen! Sie liebte Bohlen! Doch Dieter Bohlen würde Schwester Jessica nie wieder lieben können …

Professor van Grooten zog das Skalpell heraus. „Machen wir ihn nach dem Streik zu“, rief er in die Runde und verließ mit wehendem Kittel den Operationssaal. Vor dem Behandlungstisch war Schwester Jessica tränenüberströmt zusammengesunken.

RÜDIGER KIND