: Mit erstaunlichem Elan
Als Neunjährige hat Anjorka Strechel ihre ersten Theatererfahrungen gemacht. Seitdem lässt sie die Bühne nicht wieder los. Nun hat die gebürtige Lüneburgerin auf der Leinwand ein zweites Zuhause gefunden: Ihr Filmdebüt „Mein Freund aus Faro“ ist jetzt beim Filmfest Osnabrück zu sehen
Wenn Filmkunst in Imbissbuden Einzug hält, dann ist spätestens die ganze Stadt Osnabrück im Kinofieber. Das unabhängige Filmfest Osnabrück, das am morgigen Mittwoch beginnt und bis Sonntag dauert, lockt jedes Jahr aufs Neue nicht nur einige unverbesserliche Cineasten vor die Leinwand. Sondern es vermag auch das sonst eher an Hollywood-Streifen interessierte Publikum anzulocken: Beim Programm „Kino im Biss“ sollen in fünf Schnellfresstempeln der Stadt Kurzfilme auch die Bratwurst verzehrende Einwohnerschaft begeistern. Eine Tour quer durchs Zentrum verbindet die ungewöhnlichen Aufführungsorte.
Vielleicht trifft der Kinobesucher dabei auf einen der Stolpersteine, die auch in Osnabrück an die Judenverfolgung im „Dritten Reich“ erinnern: Zur Eröffnung zeigt das 23. unabhängige Filmfest nun Dörte Frankes Dokumentation über den Konzeptkünstler Gunter Demnig, der die Städte Deutschlands mit seinen Erinnerungspflastersteinen versieht. Frei nach dem diesjährigen Motto: „The Future is unwritten.“
Weitere Höhepunkte sind der Cannes-Gewinner „Entre le Murs / Die Klasse“ von Regisseurs Laurent Cantet sowie das NDR-Doku-Drama „Remarque – Sein Weg zum Ruhm über die frühen Jahre“. HOS
VON HEIKO OSTENDORF
In diesen Tagen schwebt sie zwischen zwei Welten. Gerade dreht Anjorka Strechel ihren zweiten Kinofilm, in Russland. Gleichzeitig läuft am Osnabrücker Theater die Wiederaufnahme von Oscar Wildes „Bunbury“ in der Elfriede-Jelinek-Version an. Da steht sie dann für einige Abende wieder als Cecily Cardew auf der Bühne. Eine stressige Zeit für die 26-jährige Schauspielerin, deren Leinwanddebüt „Mein Freund aus Faro“ Ende Oktober in die Kinos kommt und am 11. vorab beim unabhängigen Filmfest Osnabrück zu sehen ist.
Unterschiedlicher könnten diese zwei Beschäftigungen nicht sein. „Auf der Bühne muss man für drei Stunden permanent konzentriert sein“, sagt Strechel, „bei Dreharbeiten spiele ich eine Minute und habe dann wieder eine halbe Stunde Pause.“ Dennoch überwiegt bei der in Lüneburg Geborenen die Freude über die neue Herausforderung als Filmdarstellerin. In „Mein Freund aus Faro“ konnte sie gleich die Hauptrolle ergattern und hatte berühmte Kollegen an ihrer Seite: Tilo Prückner („Tatort“), Lucy Hollmann („Die wilden Hühner“) und Manuel Cortez („Verliebt in Berlin“).
Für Regisseurin Nana Neul, die mit dem Drehbuch den Max-Ophüls-Preis gewann, war Strechel die Idealbesetzung. Dennoch hatte sie Sorgen, wie aus der jungen Frau mit den langen Haaren und den blauen Augen die Hauptfigur werden sollte. Schließlich ist Mel eine Heranwachsende, die sich wie ein Junge kleidet, ihre schwarzen Haare kurz trägt und deshalb von der 14-jährigen Jenny problemlos für einen Portugiesen gehalten werden kann. Mel verliebt sich in das Mädchen und stolpert in eine komplizierte Beziehung zwischen Lüge und Leidenschaft. Immerhin ist es für sie, die in einem Männerhaushalt aufgewachsen ist, die erste große Liebe.
Gerne wird die Handlung des Films als die Erzählung eines lesbischen Coming-Outs gesehen. Doch Strechel findet, diese Sichtweise lasse einiges außer Acht: „Ich bin über diese Interpretation immer ein bisschen traurig, denn Mel hat das jetzt zwar erlebt, aber das heißt ja nicht, dass sie plötzlich ihre Sexualität gefunden hat.“ Sie finde viel mehr, dass Mel an der Erfahrung plötzlich gemocht zu werden und Liebe zu erfahren, reifer geworden ist. „Und das gibt ihr die Chance, einen Neuanfang zu starten.“
Strechel verleiht der Rolle keine süßliche Niedlichkeit, sondern zeigt einen Menschen, der seinen Platz in der Gesellschaft noch sucht. Die Schwierigkeiten spart sie dabei nicht aus. Mel geht hartnäckig ihren Weg, nimmt sich ihren portugiesischen Arbeitskollegen Nuno als Vorbild, um vor Jenny die Rolle des Miguel realistischer zu gestalten. Diese immer geschickter werdende Täuschung bekommt der Kinobesucher wertungsfrei vorgesetzt und darf sich so sein eigenes Bild machen.
Zum Ende des Films verliert der Zuschauer diesen Abstand dann, darf Mitleid mit Mel empfinden, wenn sie von den Dorfjugendlichen verfolgt und verprügelt wird. Bei der Hetzjagd durchs Maisfeld ist die Kamera ganz dicht an ihr dran. Angst und Schmach sprechen aus den Augen Strechels, die ihre Mittel effektiv zurückhaltend einzusetzen weiß. Eine außerordentliche Leistung für ein Debüt.
Um so weit zu kommen, hat Strechel ihre Heimat Lüneburg verlassen und in Hamburg an der Schauspielschule studiert. Dort arbeitete sie mit Regisseur Andreas Kriegenburg bei dem Stück „White Trash“ zusammen. „Es gab keine richtige Textvorlage, nur Interviews und Arbeitsmaterial, sodass wir alles selbst entwickelt haben“, sagt sie im Rückblick. Sie bewundert die Arbeit Kriegenburgs. Die mittlerweile in Osnabrück engagierte Strechel schätzt an dem Regisseur, dass er genau die Stärken und Schwächen seiner Schauspieler kennt.
In Osnabrück kann Strechel ihre schauspielerische Vielfältigkeit ausleben. Ob als sportlich-hyperaktive, blonde Cheerleaderin in „Elektra“ oder als zwischen Melancholie und Rebellion changierende Recha in Lessings „Nathan der Weise“ – immer legt sie erstaunlichen Elan in ihre Rollen. Beeindruckend auch ihr Auftritt in Claudius Lünstedts „Musst boxen“: Hier gibt sie ihrer Figur gekonnt einfühlsam und aufwühlend diese spezielle Form der Traurigkeit, die schnell zu Aggression werden kann.
Auf das Theater will sie deshalb auch nicht verzichten – trotz Filmkarriere. „Ich werde solange man es mir gönnt, immer wieder auf die Bühne zurückkehren wollen“, sagt Strechel am Petersburger Telefon. Dann heißt es Koffer packen und auf zum Flughafen. Schließlich wartet der Hauptjob in Deutschland auf sie.