: berliner szenen Nichts unterstellen
Ein Dichter in der U-Bahn
„Was heißt unterstellen“?, fragte mich der Mann, der schon die ganze Zeit sehr unruhig in der U1 neben mir saß. Ich verstand nicht gleich, was er meinte, denn er hatte einen starken spanischen Akzent. Daher fragte ich ihn noch einmal nach dem Wort und in welchem Kontext es gebraucht worden war.
Er erzählte mir, dass ihm eine Frau ihre Nummer gegeben hatte. Er aber hatte ihr seine nicht angeboten. Daher hatte die Frau zu ihm gesagt, dass sie ihm nicht „unterstellen“ wolle, dass er sich nicht bei ihr melden würde, aber dass es gut wäre, wenn sie für den Fall der Fälle auch seine Nummer hätte. Dann verstand ich seine Frage und erklärte ihm die Vokabel. Er fing an zu lachen und fragte – genauso spontan wie zuvor mich – zwei andere Frauen, die direkt gegenüber von uns saßen, warum sie uns die ganze Zeit belauscht hätten. Die beiden zuckten mit den Achseln, gaben damit zu verstehen, dass sie unsere Unterhaltung mitgehört hatten. Er fragte nun die beiden, ob sie wüssten, was „scharfsinnig“ bedeuten würde und guckte sie herausfordernd an. Als ihn eine der Frauen fragte, warum er denke, dass sie scharfsinnig seien, sagte er, er meinte nicht, dass sie scharfsinnig seien, sondern er selbst: Er hatte schließlich bemerkt, dass sie uns belauscht hatten. Sie dagegen seien lediglich „neugierig“ gewesen. Er fing wieder an zu lachen und freute sich, dass er die Begriffe neugierig und scharfsinnig kannte und auseinanderhalten konnte.
Auf einmal erzählte er uns ganz unvermittelt, dass er ein bekannter Dichter aus Südamerika sei und seine Gedichte dort überall gelesen würden. Daraufhin fragte mich eine der Frauen, „ob er auch weeß, wat flunkern heißt?“ Damit wollte sie ihm aber gewiss nichts unterstellen.
JACOB BÜHS
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