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Archiv-Artikel

Türkische Reformen im Schatten des Krieges

EU-Kommissar Verheugen zu Gesprächen in Ankara über Reformprozess. Derzeit dominiert das Thema Irak die Debatte

ISTANBUL taz ■ Als EU-Kommissar Günter Verheugen gestern in Ankara einflog, traf er auf eine Regierung, die völlig im Schatten des bevorstehenden Krieges gegen den Irak steht. Seit Wochen ist er der erste hochrangige Besucher, der nicht über die Nutzung von Flughäfen oder Truppenaufmarschgebieten verhandeln will, sondern den innenpolitischen Reformprozess begutachten soll. Trotzdem wird auch Verheugen am Thema Irak nicht vorbeikommen, denn die Verstrickung der Türkei in einen möglichen US-Angriff überschattet alles. Dazu kommt, dass seit der wenig ermutigenden Entscheidung des EU-Gipfels im Dezember die Europa-Begeisterung einen Dämpfer erhalten hat.

Trotzdem ist die Regierung bemüht, den Reformprozess nicht einschlafen zu lassen. Im Januar verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket, in dem unter anderen die Regelungen aufgehoben wurden, die Polizisten vor einer Anklage schützten. Ebenfalls im Januar wurde das Parteiengesetz so geändert, dass ein Parteienverbot erheblich schwieriger wird. Vor wenigen Tagen wurde vom Parlament per Gesetz festgelegt, dass alle Verfahren, die vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof als unfair gerügt worden waren, neu aufgerollt werden müssen.

Dennoch spielen die innenpolitischen Reformen in der öffentlichen Debatte zurzeit kaum noch eine Rolle. Das zeigt sich an der mangelnden Aufmerksamkeit der AKP-Regierung gegenüber der kurdischen Minderheit. Die kulturellen Rechte, die den Kurden gewährt werden sollen, scheinen in Ankara in Vergessenheit geraten. Unter größten Mühen hatte noch die Vorgängerregierung unter Ecevit durch Neuregelungen ermöglicht, dass kurdisches Fernsehen und Unterricht in kurdischer Sprache im Prinzip erlaubt sind. In der Praxis ist davon kaum etwas zu spüren. Private Fernsehgesellschaften dürfen nicht in Kurdisch senden und das Staats-TV beschränkt sich auf zwei Stunden in der Woche. Teilnehmer an kurdischen Sprachkursen müssen mindestens 18 Jahre alt sein.

Doch auch echte Verbesserungen drohen durch den bevorstehenden Krieg wieder zunichte gemacht zu werden. Die positiven Auswirkungen der Aufhebung des Ausnahmezustandes in den kurdisch bewohnten Provinzen im Südosten werden durch den Truppenaufmarsch entlang der irakischen Grenze konterkariert. Deshalb hat der Vertreter der EU in Ankara, der deutsche Diplomat Kretschmar, erklärt, ein Krieg im Irak würde den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei Ende 2004 wieder unwahrscheinlicher machen. JÜRGEN GOTTSCHLICH