Frieden macht ein kleiner Kreis

„Warum können auf der Demo nicht die Betroffenen sprechen? Die Iraker!“ Kristian Golla widerspricht keiner. Er hat schon 1991 Demos organisiert „Alles Kader“, sagt die Studentin. Sie will da nicht mehr hin, zur „Achse des Friedens“

aus Berlin HEIKE HAARHOFF

Die Stühle stehen im Hufeisen, damit jeder jeden sehen kann. Aber was nützt das, wenn man kein Gehör findet? Der Kriegsveteran springt auf, stößt seinen Stuhl nach hinten, baut sich auf zu seiner vollen Körpergröße, höchstens 1,80 Meter und doch irgendwie hünenhaft. Dann lässt er seinen Groll auf das höchste Gremium der deutschen Friedensbewegung in Berlin niedergehen. „Die Diskussion erinnert mich an meine Heimat, wo Schwarze, Arme und Indianer auch keine Stimme haben! Warum können auf der Demo nicht die Betroffenen sprechen? Die Iraker! Und die Soldaten!“

Tuscheln. „Pffft.“ „Tssss.“ Und knapp 40 Augenpaare von knapp 40 Delegierten von knapp ebenso vielen Friedensorganisationen, die aus dem ganzen Land nach Berlin entsandt wurden, um für den 15. Februar eine bundesweite Großdemonstration in Berlin gegen den drohenden Irakkrieg vorzubereiten. Unverwandt mustern sie den Mann, der da beschwörend auf sie einredet: Darnell Stephen Summers, schwarz, dreadlockig, starker amerikanischer Akzent. In der BRD stationiert gewesen, 1967 in Vietnam zum Kriegsfeind geworden, seitdem aktiv in der „Stop the war brigade“ und mehr als 30 Jahre zivil in Deutschland. Ein Fremdkörper im Saal. Einer, dem man leicht unterstellt, er lege es nur auf Provokation an. „Kommst du mal zum Punkt“, raunt einer.

Dem Veteranen fällt nichts mehr ein. Außer seiner Muttersprache. „Ey man, listen! If you wanna laugh me, go outside!“ Er schreit jetzt. Verstummt wieder. Blickt dann erwartungsvoll in die Runde.

Der Versammlungsleiter Peter Strutynski kehrt zur Tagesordnung zurück. Festgestellt werde, sagt Strutynski, der normalerweise dem Bundesausschuss Friedensratschlag in Kassel vorsitzt, dass auf der Demonstration „wie besprochen“ drei Rednern das Wort erteilt werde: einem Gewerkschaftsaktivisten, einem Kirchenvertreter und einem Repräsentanten der globalisierungskritischen Bewegung. Iraker? Soldaten? War was?

Irgendwann ist Darnell Stephen Summers verschwunden. Er habe noch einen Termin gehabt an jenem Nachmittag im Januar, wird er später sagen. Irgendwann verschwindet auch der palästinensische Journalist Said Dudin, verschwindet der Iraker einige Plätze neben ihm, verschwindet die Vertreterin der kurdischen Frauenorganisation Ceni von gegenüber. Dudin hatte vor der „Naivität“ gegenüber „Erzfeinden und Konterrevolutionären“ in der irakischen Opposition gewarnt, der Iraker missverständliche Formulierungen im Aufruftext ausgemacht, die Ceni-Vertreterin an das Leid der Kurden unter dem drohenden Krieg erinnert. Echo: null.

Ismail Parmaksiz von Yek-Kom, einer Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, geht nicht einfach leise davon. Er protestiert. Er will unbedingt in den elfköpfigen Arbeitsausschuss, der als eine Art geschäftsführendes Organ gerade von den Delegierten gewählt wird und künftig bei Streitfragen über Programm und Ablauf der Demonstration, die schnell entschieden werden müssen, das letzte Wort haben soll. Immer wieder räuspert er sich, ruft „Entschuldigung!“, steht kurz auf und meldet feierlich seine Kandidatur an. „Die Kurden sind die, die am meisten leiden werden“, sagt er wie zur Begründung.

Niemand im Saal lehnt seine Kandidatur explizit ab. Niemand sagt ihm beispielsweise, dass seine Organisation als PKK-nah eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Vielleicht wissen sie das auch nicht. Niemand riskiert eine ehrliche Auseinandersetzung. Parmaksiz wird nur nicht auf die Liste gesetzt. Da greift er seinen Mantel: „Wir können die Aktion unterstützen und bezahlen, aber entscheiden dürfen wir nichts! Dann können wir auch gehen.“

Er hat die Tür fast zugeschlagen, als es aus Kristian Golla, angereist aus Bonn und dort seit mehr als einem Jahrzehnt beim Netzwerk Friedenskooperative, zischt wie lang unterdrückte Wut: „Wir machen seit 20 Jahren Friedensarbeit. Bei der Lotterie heißt es: kein Rechtsanspruch. Wenn ihr was vorschlagt, heißt das nicht, dass wir das auch so machen!“

Wir. Im Gegensatz zu: euch. Endlich ist es raus. Ist ausgesprochen, was seit Jahresanfang oder vielleicht schon eher, jedenfalls seit der Krieg beschlossene Sache zu sein scheint und die Friedensbewegung über ihr eigenes Comeback staunt, immer wieder erlebbar und trotzdem irgendwie pfui ist: die Frage, wer mit welcher Legitimation innerhalb des kleinen Friedenszirkels das Sagen hat. Und woran Neuzugänge augenscheinlich scheitern, noch bevor sie in die Verlegenheit kämen, etwaige Mehrheiten für ihre Ideen zu organisieren. Die deutsche Friedensbewegung, kaum dass sie ihre Mitglieder- und Existenzkrise der 90er-Jahre überwunden zu haben scheint, eine geschlossene Gesellschaft?

Schon vor 20 Jahren gingen sie gemeinsam auf die Straße gegen SS 20, Pershing II und Nato-Doppelbeschluss, schmückten ihre Autos mit Friedenstauben und sich mit einer Weltanschauung, in der es viel Mitleid für Minderheiten und Andersdenkende gab und ansonsten die Überzeugung, selbst jedenfalls auf der richtigen Seite zu stehen.

Diese Haltung haben sich viele der mittlerweile 40- bis 70-jährigen Friedensbewegten bis heute bewahrt; inzwischen sind einige von ihnen aufgestiegen zu Bundesvertretern von Friedenskooperative, Bundesausschuss Friedensratschlag, Deutscher Friedensgesellschaft, Deutschem Friedensrat, Friedenskoordination, Pax Christi und wie die Gruppen alle heißen. Interne Hierarchien hat man akzeptieren gelernt, Autoritäten anerkannt. Umso größer ist heute das Unverständnis der älteren Generation für die Kritik mancher neuer Mitglieder bzw. der Ärger der Neuen über den Umgang der Alten mit ihnen – auch Tage nach dem Berliner Treffen.

Eben weil es kein Einzelfall sei, wie Ismail Parmaksiz, der Kurde, sagt: „Bei jeder Versammlung können wir reden und reden und reden, dann sagen sie danke, und dann beschließen sie das, was sie sowieso beschließen wollten.“ Weil ein fremder Erfahrungshorizont nicht gefragt sei, sagt Agnes Alvensleben von der kurdischen Frauenorganisation Ceni: „Die betonen immer ihre 20-jährige Friedensarbeit. In Deutschland! In Kurdistan herrschte mehr als 20 Jahre Krieg. Da haben die Leute gelernt, was es heißt, für Frieden zu kämpfen.“ Weil die alten Friedenskämpfer auch nur Teil der deutschen Gesellschaft seien, sagt Darnell Stephen Summers: „Da hast du es als Schwarzer generell schwer.“ Weil sie sich wie eine Glaubensgemeinschaft benähmen, die nur am Selbsterhalt interessiert sei, sagt Said Dudin: „Die Antikriegsbewegung ist das Instrument einiger Intellektueller und Notabeln, die jüngere Leute und Leute aus anderen Kulturkreisen vergraulen.“ Das Unangenehme, sagt Dudin: „In der vierten Reihe hat jede Organisation ihren Alibi-Sudanesen oder -Marokkaner sitzen, der wie ein Papagei alles nachplappert.“

Safiye Yildiz mag am Telefon zunächst gar nicht antworten, so aufgebracht ist sie. „Said schadet der Bewegung“, sagt sie schließlich. Yildiz hat als Vertreterin von DIDF, einem 1980 gegründeten Dachverband türkischer Vereine in Deutschland, auch an dem Treffen in Berlin teilgenommen. „Wenn da der Eindruck entstanden ist, dass Ausländer ausgegrenzt werden, dann kann ich nur sagen: Das ist nicht so.“ Tatsache sei, sagt Yildiz, dass ihre Organisation sich als einzige kontinuierlich seit dem 11. September 2001 in der Friedensbewegung engagiert habe. Wenn andere wie Yek-Kom nur sporadisch erschienen und dann Rederecht einforderten, „dann kann ich denen nicht helfen“.

Also alles nur ein dummes Missverständnis? Peter Strutynski fragt erst mal genau nach, wer sich denn im Nachhinein noch wie despektierlich geäußert habe. Wenn die Leute mal keinen Ärger kriegen! Aber dann sagt Strutynski nur freundlich: „Ja.“ Ja, er höre die Vorwürfe nicht zum ersten Mal. Ja, er könne sich sogar denken, wem was nicht passt. Nur dass die Kritik diesmal öffentlich ist. Also hört er weiter zu und antwortet dann: „Nein.“ Nein, von Diskriminierung könne keine Rede sein, und nein, „grundsätzlich“ gebe es „keinerlei Berührungsängste“. Gegenüber niemandem. Nur sei es zuweilen „den ausländischen Freunden“ schwer vermittelbar, dass nicht jeder von ihnen auf der Rednerliste stehen könne: „Das ist oft so in der Diaspora: Lässt man einen reden, kommen plötzlich alle angelaufen.“

Und dann sei da, keine Frage, dieser Jargon. Eingeschliffen seit mehr als 20 Jahren. Der mache den Neuen die Sache nicht leichter, die Sache mit dem Einbringen und dann eben auch: „dass man die Sache mal aus der Binnenperspektive der hoch erfahrenen Friedensaktivisten versteht“. Strutynski nennt ein Beispiel: „Der Kristian Golla, der macht das hauptamtlich, der wird für seine Friedensarbeit sogar bezahlt.“

Der hat Zeit, sich auf entscheidende Sitzungen umfassend vorzubereiten, und kann fast sicher sein, dass sie in seinem Sinn verlaufen. Schließlich kennt er die unterschiedlichen Argumentationsweisen und weiß, wie er sie parieren kann. Dem widerspricht keiner so schnell, weil er sich schon einen Namen gemacht und die Demonstrationen gegen den Golfkrieg von 1991 organisiert hat. Und wenn einem wie Golla, der mit Vollbart und Lederranzen aussieht wie ein Gemeinschaftskundelehrer auf Klassenfahrt, dann doch mal harsche Sprüche rausrutschen wie „Kein Rechtsanspruch in der Lotterie“ und so, dann wisse doch jeder, das ist bloß Jargon.

Oder Strutynski selber: Der Politikwissenschaftler arbeitet an der Uni Kassel und wird praktischerweise von seinem Fachbereich unterstützt bei den Friedenskongressen, die er jedes Jahr organisiert. Mehr als 300 Teilnehmer kommen dorthin. Er hat gelernt, Debatten zu steuern. Wenn er spricht, schwingt die Gelassenheit eines Erfolggewohnten mit.

Heute ist Strutynski 57 Jahre alt und damit voll im Trend, sagt er: „Die Friedensbewegung war nie eine Jugendveranstaltung.“ Schon in den 80er-Jahren, auf ihrem Höhepunkt, seien die tragenden Säulen nicht jünger als 30 oder 40 gewesen. Vielleicht auch daher die geringe Bereitschaft, den Jüngeren heute eine Chance zu geben: „Schüler und Studenten, das ist unsere Erfahrung, sind immer nur über einen kurzen Zeitraum aktiv. Dann sind sie wieder weg.“

Jessica Jansen weiß, wie die erfahrenen Friedensaktivisten über sie denken. Als die USA im Winter 2001 Bomben auf Afghanistan warfen, war die damals 20-jährige Geschichtsstudentin eine der Ersten an der FU Berlin, die ein wöchentlich tagendes „Anti-Kriegs-Komitee“ einrichteten. Seitdem trifft sich ein gutes Dutzend Studenten immer dienstags im kahlen Seminarraum Kl29/139, um über Geopolitik zu diskutieren, aber auch über das, was gemeinhin Mobilisierung der Öffentlichkeit heißt und an der FU nur schlecht klappt. Ein Dutzend ständiger AKK-Mitglieder bei rund 44.000 Studierenden – eine Zeit lang schien „Vernetzung“ ein Ausweg. Jansen suchte die „Achse des Friedens“ in Berlin auf, wo die klassische Friedensbewegung tagt: „Alles Kader.“ Sie will da nicht mehr hin. Zwar habe sie was sagen dürfen, aber das sei für die Katz. „Kritische Debatten werden abgewürgt.“ Es entscheide ein kleiner Kreis, der sich seit langem kenne.

Neulich hat sich das AKK ausnahmsweise ein Wochenende Zeit genommen für eine Zusammenkunft. Auf der Tagesordnung: „Unser Selbstverständnis.“