Das Ende einer Kunstform?

Die Stadttheater-Ästhetik verlangt nach viel Personal. Und das kostet Geld. Nicht aus künstlerischen, sondern aus finanzpolitischen Gründen ist die Form in eine Krise geraten. Die langwierigen Vertragsverhandlungen des Senats mit Intendant Klaus Pierwoß sind deren Symptom

Die Rottöne beißen sich. Schmutzig-orange der Druckknopf, der elegante Nagellack eher bordeaux: Der Zeigefinger verharrt regungslos auf dem Schalter, eine Sekunde, zwei, drei. Absolute Stille; nur, vielleicht, drüben im Saal, hört sich das Publikum atmen. Und sicher, hier ticken die erhitzten Scheinwerfer, das Sperrholzgerähm der Kulisse knackt.

Eine entschiedene Bewegung: Margret Huggenberger drückt den Schalter, der leuchtet jetzt, eine Tür knallt auf, Schritte poltern, Kasimir stampft über die Bühne, Herrmann Book als Kasimir. Karoline, die zweite Titelfigur von Ödön von Horváths Volksstück, das ist in Andrej Worons Bremer Inszenierung Gabriela Maria Schmeide. Die ist ein paar Minuten zuvor von der Szene gegangen, dann am Inspizientenplatz erschienen.

„Na, Maggy?“ Ein flüchtiger Gruß. Die Hauptdarstellerin lässt sich neben Margret Huggenberger nieder. Die Ellbogen auf dem schmalen Pult, schwingt sie im Drehstuhl hin und her, während sie den kleinen Monitor beobachtet. Auf dem ist Book zu erkennen, ganz oben rechts. Er geht neben der Rampe entlang. Das Bild flackert.

Margret Huggenberger lässt den Druckknopf zurück schnappen. Das Kontrolllämpchen erlischt. Wieder schaut sie über den rötlichen Rand ihrer Brille aufs Textbuch. Gelassen gleitet die schmale Hand zum Rand der Seite, fasst die Ecke des Papiers, blättert um, geräuschlos. Das sieht anmutig aus, wie choreografiert.

„In München steht ein Hofbräuhaus …“ intoniert die Kappelle. „Requisite, es fehlt eine Tüte Konfetti.“ Überdeutlich flüstert die Inspizientin Anweisungen in die Mikrofone am Schaltpult. „Die Statisten können einsteigen, Frau Schreiner und Frau Küster bitte.“

Die Szene wird lauter. Gemurmelte Gespräche sind erlaubt. „Theater von hier hinten“, sagt Gabriela Schmeide, „das mag ich ja viel lieber, als oben zu stehen.“ Vor allem, wenn mal etwas nicht funktioniere, „dann rennt hier alles und hat eine unheimliche Energie“. Dann fallen Margret Huggenbergers sparsame Kommandos in einem schnelleren Tempo, und wie aus dem Nichts tauchen einer oder zwei von der Handwerker-Crew auf.

An diesem Abend ist nur einmal ein Scheinwerfer verstellt. Das Publikum kann das kaum bemerken. Aber es muss alles perfekt sein. Und die Inspizientin hat den Bühnenblick: Einst selbst Tänzerin, sieht sie Störungen und ihre Ursache sofort.

Schon steht der Beleuchter auf der Galerie. Von Hand schiebt und ruckelt er am Strahler, bis der die richtige Position hat. Lautlos gleitet der lange Kerl dann die Stahltreppe hinab. Bevor er wieder auf seinen Platz geht, lehnt er sich zu Maggy hinunter. „Wenn die Techniker zu blöd sind, auf ihre Kabel aufzupassen“ raunt er. Das nennt man Aggressionsabbau.

Elf Schauspieler agieren auf der Bühne. Zugleich arbeiten ein Stellwerker, zwei Beleuchter, ein Beleuchtungsmeister, zwei Requisiteure, ein Bühnenmeister und seine vier Techniker, eine Putzfrau, ein Souffleur, zwei Tontechniker, die Maschinenabteilung, nicht zu vergessen die Inspizientin, bei der die Fäden zusammen laufen … – 29 Mitarbeiter bleiben bei jeder Aufführung von „Kasimir und Karoline“ für gewöhnlich unsichtbar.

Ganz am Ende, und das hat Maggy viele liebe Worte und Zureden gekostet, treten die meisten von ihnen zum Schlussapplaus mit auf: Schmiede verliest einen Appell. Denn noch immer sind die Bleibeverhandlungen des Senats mit Generalintendant Klaus Pierwoß nicht abgeschlossen. Ensemble und Techniker fordern das Publikum auf, eine Unterschrift für den Theaterchef zu leisten.

Dem hat der Kultursenator inzwischen ein neues Angebot vorgelegt. „Ich werde es das ganze Wochenende über sehr genau prüfen“, hat der Intendant angekündigt. Pierwoßens Forderungen, das wissen die Beschäftigten, betreffen nicht sein Gehalt. Der Theatermann verlangt von der Öffentlichen Hand den vollen Ausgleich der Tarifsteigerungen bis 2009, das Land wollte aber bislang nur drei Viertel der 900.000 Euro übernehmen – den Rest müssten die Bühnen selbst erwirtschaften. Unmöglich, halten Intendanz und Geschäftsführung dagegen. Das hieße, das Theater in seiner bisherigen Form dicht zu machen – vulgo: betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen.

Das betrifft jeden Angestellten der Bremer Theater GmbH. Deren Personalstand im Januar 2003: Künstler 160, Techniker 210, Verwaltungsangestellte 30, Haus- und Abendpersonal 40. Zudem gibt es noch – mehr Lehrlinge dürfte kaum ein mittelständisches Unternehmen beschäftigen – 20 Auszubildende: Macht 460. „Das sind ausschließlich die fest Angestellten“, betont Lutz-Uwe Dünnwald.

Ein Stadttheater, das ist ein Riesenapparat, ein großer Dampfer: Wozu dieser Aufwand, könnte Hänschen Schlaumeier fragen. Geht’s nicht ein bisschen kleiner? Vor allem würde ihn irritieren, dass mehr technisches Personal nötig ist, als künstlerisches. Das erschiene ihm als Missverhältnis.

Aber ach, der Arme! Er hat wenig Ahnung von Ästhetik geschweige denn von der Theaterlandschaft. So kommen im Durchschnitt beim Bremer Theater nur 1,5 Techniker auf einen Schauspieler, Sänger, Tänzer oder Regisseur. Normal wäre, das geht aus Erhebungen des Deutschen Bühnenvereins hervor, ein Verhältnis von 3 zu 1. Doppelt so viele Bühnenarbeiter, wie Bremen hat.

Und sicher, die Tragödie Griechenlands kam wohl ganz ohne Techniker aus. Zumindest ist in der Überlieferung keine Rede von ihnen. Ebenso wahr ist es, dass sich bei freien Gruppen die Verhältnisse oft umkehren: Bei der Bremer Shakespeare Company etwa sind 12 Spieler in Lohn und Brot, während bloß vier Arbeitskräfte die Beleuchtung, das Bühnenbild und die Kostüme bewältigen.

„Aber das liegt an unserem spezifischen Ansatz“, sagt Leiterin Renate Heitmann. „Wir haben unsere ganz bestimmte Bühnenästhetik.“ Stadttheater hingegen müssen Vielfalt bieten. Und das nicht nur, weil sie in öffentlicher Trägerschaft liegen: Diese Theaterform entsteht im 18. und 19. Jahrhundert – simultan zur Erfindung der großen Bühnenmaschinerie. Klar, auch spartanische Aufführungen sind möglich. Aber „es ist wichtig“, so Intendant Pierwoß, „dass dieser technische Aufwand getrieben werden kann.“

Die beiden Formen konkurrieren nicht. Sie ergänzen einander: So ist Andrej Woron, Regisseur der Bremer „Kasimir und Karoline“-Version, in Berlin bekannt als Leiter des Teatr Kreatur. Eine Hinterzimmerbühne, berühmt für ihre Einpersonen-Stücke.

Ohne Personal stürbe die Kunstform Stadttheater. Denn ohne Spezial-Effekte gibt es sie nicht. Es muss nicht einmal krachen und donnern.

Es reichen schon die subtilen, kaum in die Wahrnehmung dringenden Lichtwechsel, ein Spiel mit den Stimmungen einer Szene. Oder ein Umbau in der Pause: „Schnell, schnell“. Das Leben geht weiter. Die Galerie wird auseinander geschoben, ein Durchlass entsteht, durch den wuchten drei, vier Männer Stapel von grünen Holztischen. Ein anderer trägt ein Stäbchen Zuckerwatte an seinen Platz: Die Wies’n-Illusion muss mit dem Pausengong fertig sein. Mit ihrem Daumen fährt Margret Huggenberger über eine Reihe weißer Schalter. „Drittes Klingelzeichen“, sagt sie in die Mikrophone. Das Publikum sitzt auf den Plätzen. Der Abend ist ausverkauft.

Benno Schirrmeister