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Studentin für einen Tag

Hell leuchtet die Volksbühne in die Nacht. Zusammen mit Anna und Viola eile ich die Treppen hinauf. Wir sind spät, und wir müssen auch noch eine Studentenkarte verkaufen. Vor der Tür wartet ein gepflegter älterer Mann mit Bart. Er scheint noch Karten zu brauchen und winkt seine Begleiterin heran.

Die Frau ist überrascht. Rothaarig, ganz in Schwarz gekleidet, in ihrem feinen Gesicht ein Lächeln, strebt sie ihrem winkenden Begleiter entgegen. Ist er ihr Mann, ihr Freund-Freund oder doch nur ein Bekannter? „Geh du“, sagt er zu ihr. Sie antwortet, es klingt russisch. Oder so ähnlich. „Das ist eine Studentenkarte, ich weiß nicht, ob sie damit …“, versucht Viola zu erklären. Die Frau sieht nicht aus wie eine Studentin. „Das wird schon gehen“, sagt der Mann freundlich, nickt ihr zu und zieht einen Geldschein aus seiner Tasche. Wahrscheinlich warten sie schon seit zwei Stunden hier, standen in der langen Schlange für die nicht abgeholten Karten und wurden dann in barschem Ton vom Personal beschieden.

Anna zuckt mit den Schultern. Wir müssen rein, zehn Minuten zu spät. Viola tauscht die Karte gegen Geld. „Viel Spaß“, wünschen wir. Er bedankt sich. Wir hetzen zum Eingang, lassen die Karten abreißen. „Das war gemein, jetzt darf sie sicher nicht rein“, zögert Viola. Von der Treppe schauen wir zurück. Die roten Haare stehen gerade an der Tür. Auf der Bühne spielen sie schon. Unsere Plätze sind belegt, es ist dunkel. Jemand beschwert sich, man solle sich doch endlich hinsetzen. Wir müssen auf der Treppe sitzen. Christoph Schlingensief und sein Team starten die Kettensäge. Nach dem Applaus steht die fremde Frau an der Garderobe. Sie ist ohne Probleme als Studentin durchgegangen.

HENNING KOBER