: Lula sagt dem Hunger den Kampf an
In Guaribas, einer der ärmsten Ortschaften des Landes, hat die brasilianische Regierung ihre Kampagne „Zero Fame“ gestartet. Doch der Schuldendienst ist zehnmal so hoch wie der Antihunger-Etat. Kritiker sprechen von Rückkehr zum Paternalismus
aus Porto Alegre GERHARD DILGER
„Das Null-Hunger-Programm ist so komplex wie der Feind, den es zu besiegen gilt“, sagte Luiz Inácio Lula da Silva, als er vergangene Woche in Brasília die Mitglieder des „Rates für Ernährungssicherheit“ ernannte, der die Aktionen der Regierung begleiten wird. Über 40 Millionen Landsleute will Brasiliens Präsident innerhalb seiner vierjährigen Amtszeit erreichen und dabei „Notmaßnahmen mit strukturellen Veränderungen“ verbinden.
Wie schwierig der Schritt von der mehrfach wiederholten Absichtserklärung zur konkreten Umsetzung selbst der „Notmaßnahmen“ ist, hat sich in den letzten Wochen gezeigt. Bis heute steht nicht einmal die Liste jener 1.000 Gemeinden fest, in denen das Programm bis Mitte des Jahres starten soll, ebenso wenig die Aufnahmekriterien für bedürftige Familien. Langfristig werde das Elend nur durch Investionen im Gesundheits- und Bildungswesen, im Wohnungsbau, in der Wasserversorgung sowie der Abwasser- und Müllentsorgung beseitigt, sagt Zilda Arns von der katholischen Kinderpastoral. Dabei müsse man an die gelungenen Sozialprogramme aus der Ära Cardoso anknüpfen, wie das Schülerstipendium Bolsa-Escola.
In Guaribas, der drittärmsten Gemeinde, leben die 4.800 Einwohner vom Anbau von Bohnen, Mais und Maniok. 40 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt, die Kindersterblichkeit ist doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Das gelbliche Trinkwasser holen Frauen auf einem Hügel zwei Kilometer von der Ortsmitte entfernt. Bis zur Hauptstadt Teresina sind es 530 Kilometer.
Ein groß angekündigter Besuch von Lula und seinem gesamten Kabinett in Guaribas war im Januar wegen „logistischer Schwierigkeiten“ abgeblasen worden. Auch zu einer Stippvisite von vier Ministern am Montag waren die Magnetkarten noch nicht fertig, mit der 500 Familien monatlich 13 Euro zum Kauf von Lebensmitteln abheben können. Nun soll es Ende Februar so weit sein. Die Begünstigten müssen aber den Kauf von Lebensmitteln mit Quittungen nachweisen – sonst können ihnen die Karten nach drei Monaten entzogen werden.
José Graziano, Minister für Ernährungssicherheit und Hungerbekämpfung, rechtfertigte sich: „Unsere Absicht ist es nicht, zu bestrafen, sondern die Leute zu einer gesunden Ernährung zu erziehen.“ Kritiker sehen in dieser Bestimmung eher eine Rückkehr zum Paternalismus. „Es geht nicht um eine weitere Spende, sondern um ein Programm, das die staatlichen Aktionen miteinander verbindet“, sagte Graziano. So werden im Pilotprojekt Guaribas 70 Häuser auf Staatskosten renoviert und 190 Zisternen zum Sammeln von Regenwasser gebaut. Der Ort soll sauberes Trinkwasser und ein Kanalisationssystem erhalten.
Schließlich finanziert die Unesco ein dreimonatiges Alphabetisierungsprogramm für tausend Erwachsene aus Guaribas und drei benachbarten Gemeinden. Für den Kauf von Lebensmitteln will die Regierung in diesem Jahr 1,3 Milliarden Euro aus Bundesmitteln bereitstellen. Hinzu kommen Gelder aus den Etats der Bundesstaaten und Kommunen, Spenden von Unternehmen und Kredite der Weltbank. Lulas Reden trügen bereits Früchte, schwärmte sein Berater Frei Betto kürzlich auf dem Weltsozialforum – so sei bei der brasilianischen Botschaft in Washington eine 25.000-Dollar-Spende eingegangen.
Die Kritiker bat Betto um Geduld – bei den Maßnahmen des Programms werde man die lokalen Gegenheiten berücksichtigen: „Paternalismus hin oder her – wer Hunger hat, will einfach nur essen.“ Zurückhaltend beurteilt João Pedro Stedile von der Landlosenbewegung MST die Entwicklung. Das A und O sei eine echte Landreform und eine „neue Wirtschaftspolitik“ mit dem Ziel einer anderen Einkommensverteilung: „Das Volk will keine Almosen, es will Arbeit.“
Finanzminister Antônio Palocci setzt indes den Sparkurs seines neoliberalen Vorgängers fort. Um die Inflation zu bremsen, erhöhte die Zentralbank den Leitzins, auch wenn dadurch die Kreditaufnahme für die einheimischen Unternehmen schwieriger wird. Und die nach Vorgabe des IWF erwirtschafteten Haushaltsüberschüsse fließen wie gehabt in den Schuldendienst – 2002 waren es 13 Milliarden Euro – 10 Null-Hunger-Programme.