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Archiv-Artikel

Hirscharena in den Schweizer Alpen

70 Prozent der Besucher des Schweizerischen Nationalparks reisen mit dem Privatauto an. Nun ist er das neueste „Fahrtziel Natur“ der Bahn

NATIONALPARK

Anreise: Mit dem ICE ab Berlin, Hamburg, Frankfurt und Stuttgart nach Zürich. Von dort in 2 bis 3 Stunden (2-mal umsteigen in Landquart und Sagliains) nach Zernez (www.sbb.ch). Oder mit City Night Line von Amsterdam, Hamburg, Berlin und Dresden nach Zürich (www.bahn.de/citynightline) Mobil vor Ort: rund um den Nationalpark mit dem Postauto (www.postauto.ch) Schweizerischer Nationalpark: Das neue Nationalparkzentrum in Zernez mit Dauer- und Wechselausstellung wurde im Mai 2008 eröffnet. www.nationalpark.ch, www.nationalparkregion.ch Wandern: Die einwöchige Wandertour durch den Nationalpark kostet 364 Euro. Buchung über Samnaun Tourismus, info@samnaun.ch, www .samnaun.ch. Von November bis Mai ist der Nationalpark nicht begehbar. Fahrtziel Natur: Im Jahr 2001 wurde die Kooperation der Deutschen Bahn mit den vier großen deutschen Umweltverbänden, dem BUND, dem Nabu, dem VCD und dem WWF, gegründet. Damit sollen die umweltfreundliche Anreise, die nachhaltige Mobilität und der sanfte Tourismus gefördert werden. Der Schweizerische Nationalpark ist das neueste „Fahrtziel Natur“ (und das erste im Ausland), www.fahrtziel-natur.de.

VON GÜNTER ERMLICH

Fünftausend verschiedene Tierarten gibt es im Schweizerischen Nationalpark. 97 Prozent von ihnen sind Insekten und Wirbellose. Macht nichts, die Besucher kommen ohnehin nur wegen der restlichen 3 Prozent, wegen der Huftiere, erzählt Nationalparkführer Stefan Triebs zu Beginn unserer Wanderung. 2.000 Hirsche, 1.600 Gämsen und 400 Steinböcke streifen durch den Park. Mit bloßem Auge hat Triebs mit geübtem Blick einen Steinbock erspäht, schaut zur Kontrolle durch seinen Habicht AT 80 mit 60facher Vergrößerung, bevor er uns den Feldstecher weiterreicht. Wie hingemalt liegt der stattliche Bock auf der Krete über der Felswand.

Der Schweizerische Nationalpark, mit 170 Quadratkilometern so groß wie das Fürstentum Liechtenstein, liegt im Kanton Graubünden in der östlichen Ecke der Schweiz. Er ist der zweitkleinste der 14 Nationalparks der Alpen, aber der älteste seiner Art. Naturwissenschaftler gründeten im Jahr 1914 das Reservat, um „die noch erhalten gebliebene ursprüngliche Tier- und Pflanzenwelt“ rund um den Ofenpass mit seinen wilden Seitentälern zu retten und Forschung im Naturlaboratorium zu betreiben. Sie hatten die Notbremse gezogen, denn über viele Jahrhunderte bereits hatte der Mensch die Natur in dieser hochalpinen Region ausgebeutet. Schon seit dem frühen Mittelalter wurde hier Eisenerz abgebaut und der Wald für Holzkohle abgeholzt. Schafherden zerbissen die Weiden, Berg- und Seilbahnen erschlossen die Gipfel für den aufkommenden Tourismus. Von Zernez, dem „Tor zum Nationalpark“, sind wir mit der Rhätischen Bahn, die für „Steinbockstarke Bahnerlebnisse“ wirbt, nach S-chanf (sprich Sch’tschampf) gefahren. Wohli, der bärtige Kutscher, holt uns mit dem Planwagen vom Bahnhof ab. Mit drei Pferdestärken zuckeln wir zur Parkhütte Varusch. Dahinter beginnt der Nationalpark, von der Weltnaturschutzunion als Gebiet mit dem höchsten Schutzstatus eingestuft: „Strenges Naturreservat“. Auf der Informationstafel des „Parc Naziunal Svizzer“, wie der Park auf Rätoromanisch heißt, lesen wir die Verbote und Gebote gleich in fünf Sprachen. „Man wird mit 500 bis 1000 Franken gebußt“, erklärt Wanderführer Triebs, „wenn man mit dem Hund in den Park reinspaziert.“ Oder jagt, angelt, Feuer macht, biwakiert. Auf den 21 Wanderrouten von 80 Kilometer Länge herrscht striktes Wegegebot. Acht Parkwächter schauen nach dem Rechten.

Langsam stiefeln wir bergan durch das Trupchun-Tal entlang der Ova da Trupchun, ehe wir den rauschenden Gebirgsbach bei der früheren Schweinealp Purcher überqueren, um dann dem Höhenweg durch den herbstlich gelben Lärchen-Arven-Wald zu folgen. An einer Arve macht Triebs Halt. Arven oder Zirbelkiefern seien die letzten Bäume vor der Waldgrenze und könnten tausend Jahre alt werden, sagt er. Am Beispiel von Arve und Tannenhäher demonstriert Triebs „das perfekte Zusammenspiel in der Natur“. Bis 1961 war der Tannenhäher, der dem Park als Logo dient, noch zum Abschuss freigegeben, weil er angeblich den Arvenbestand ausrottete. Denn im Herbst hortet der schlaue Rabenvogel einen enormen Vorrat für kalte Tage. Er verbuddelt im Waldboden 100.000 Nüsse in 25.000 Verstecken. Ganz ohne GPS findet er im Winter 80 Prozent der Nüsse wieder; aus den restlichen 20 Prozent wachsen genug neue Arven.

Die Waldhänge sind weiß bedeckt. Schon Anfang September hat es geschneit. Plötzlich zieht eine strenge Duftwolke vorbei, der Brunftgeruch der Hirsche; wenig später röhrt es. Lang gezogen und gewaltig. Das Val Trupchun ist nicht nur das wildreichste Tal der ganzen Alpen, die „Serengeti der Alpen“, sondern auch die „Hirscharena der Alpen“. Allein 400 der 2.000 Parkhirsche haben hier im Tal ihr Revier. Jetzt im Frühherbst ist Brunftzeit. Wegen dieses imposanten Naturspektakels kommen viele Schaulustige. Die beste Loge ist der markierte Rastplatz Val Mela. Auf Baumstämmen hocken rund hundert Hirschspotter in bunten Outdoorjacken und richten ihre stativgestützten Fernrohre auf den schneebedeckten Nordhang. Zunächst hören wir die Rothirsche herzzerreißend in der Kulisse röhren, dann sehen wir erst einen, Minuten später noch einen Geweihträger durch die Waldlichtung schreiten.

Am Ende der Wanderung stärken wir uns auf der Terrasse der Varusch-Hütte. Bei köstlichen Pizzochieri, einem Buchweizennudelgericht aus dem nahen Veltlin, erzählt uns Triebs von einst bereits ausgerotteten Tierarten, die wieder zurück im Park sind. Schon im Jahr 1920 wurden Steinböcke ausgesetzt, 1991 wurden am Ofenpass 27 Bartgeier ausgewildert. Von ganz allein sind aus dem nahen Italien Wölfe eingewandert. Im Sommer 2005 wurde erstmals seit hundert Jahren auch wieder ein Braunbär gesichtet, man taufte ihn Lumpaz, Rätoromanisch für Lausbub, und im vergangenen Jahr raubten bei Zernez zwei andere Lausbuben Bienenhäuser aus.

Naturschutz, Forschung, Information lauten die drei Ziele des Nationalparks. Im Vordergrund steht der Prozessschutz; absterbende Bäume, Schneelawinen, Murgänge aus Schlamm und Geröll werden nicht weggeräumt; die Natur im Park bleibt sich selbst überlassen. Der Mensch ist willkommen, darf aber keine Spuren hinterlassen. Seit letztem Jahr ist der Schweizerische Nationalpark das neueste „Fahrtziel Natur“. Mit diesem Projekt werben die Deutsche Bahn und die vier Umweltverbände WWF, Nabu, BUND und VCD für mittlerweile 17 Großschutzgebiete, für einen nachhaltigen Tourismus und die umweltfreundliche Anreise mit der Bahn. Obwohl die Schweiz das gelobte Bahnland ist, Züge auf Haupt- und Nebenlinien im Stundentakt verkehren und am Bahnhof schon der Postbus wartet, trotz all dieser Angebote im öffentlichen Nah- und Fernverkehr reisen 70 Prozent der Nationalparkbesucher weiter im Privatauto an.

150.000 Naturfreunde besuchen pro Jahr das Schutzgebiet, von ihnen profitieren auch die fünf Nationalparkgemeinden und die benachbarten Engadiner Bergdörfer. Mit einem Postbus-Oldtimer tuckern wir hinauf nach Guarda, das hoch über dem Inn auf einer sonnigen Südterrasse liegt und von zackigen Dreitausendern wie dem Piz Buin und dem Piz Linard umrahmt wird. „Wir wollen unser Dorf vor Spekulanten schützen“, sagt Maria Morell, die Gemeindepräsidentin, beim Spaziergang durch die von sgraffitodekorierten Häusern gesäumte Dorfstraße. Die Bäuerin, die mit ihrem Mann eine Ziegenkäserei betreibt, und andere Einheimische riefen die Stiftung Pro Guarda ins Leben. Mit Spendengeldern kaufen sie leer stehende Häuser und veräußern sie günstig an „Neuzuzüger“, besonders gern an junge Familien. Wie vielerorts in den Bergen ist die Landwirtschaft stark geschrumpft, viele leben vom Tourismus, neben den alteingesessenen Hotels und Restaurants gibt es inzwischen neue Kleinbetriebe wie Kräuteranbau und Korbflechterei, Keramikatelier und Webstube.

Auf der Ofenpassstraße queren wir den Nationalpark, passieren das Hotel Il Fuorn, das an frühere Kalköfen in der Gegend erinnert, kommen durch das winzige Tschierv („Hirsch“), fahren das sonnenreiche Val Müstair entlang und landen kurz vor der Grenze zum Südtiroler Vinschgau im Kloster Sankt Johann von Mustair. Das ehemalige Männerkloster, anno 775 von Karl dem Großen gestiftet, wurde 1983 von der Unesco zum Weltkulkulturerbe erklärt, vor allem wegen der karolingischen Dreiapsidenkirche und ihrer einzigartigen romanischen und karolingischen Fresken. Zwölf Benediktinerinnen leben hier nach dem Grundsatz „Ora et labora“: sommers im biologisch nach dem Mondkalender bewirtschafteten Klostergarten, winters beim Sticken.

Der gelbe Postbus bringt uns zurück nach Zernez zum Bahnhof. Gerade fährt die rote Rhätische Bahn ein. Mit „A revair! verabschiedet sich Stefan Triebs. „Hoffentlich kommen in Zukunft mehr Gäste mit der Bahn zum Nationalpark.“ Beim Einsteigen schauen wir zurück und lesen auf der Kreidetafel: „Wo ist das Wild? Am Bahnhöfli von Zernez: schon auf dem Teller!“