: berliner szenen Freunde und Helfer
Kein Bier
Ich stand am Mehringdamm und wartete auf den Nachtbus. Er kam nicht. Nachtbusse fahren nicht mehr nach 5 Uhr. Das merkte ich erst nach einer Stunde. Ja, ich hatte mich in dieser Nacht mit Rotwein angefreundet. Jemand anderes hatte sich ebenfalls mit Alkohol angefreundet. Nun lief dieser Jemand quer über den Mehringdamm und versuchte alle möglichen Autos anzuhalten. Er hielt sie für Taxis. Ich sah ihm zu und irgendwann reichte es mir. Ich war lange Jahre Altenpfleger, unvernünftig gewordenen Menschen zu helfen ist mir in Fleisch und Blut gegangen.
Ich ging also auf die Fahrbahn, fasste den Mann freundlich am Kragen, zog ihn zum Gehsteig und sprach: „Bruder, was tust du?“ Sicherlich sprach ich nicht ganz sauber aus und meine Zunge schlug beim Reden an, doch das „Lallolllulllhhlllillloolll“, das mir als Antwort entgegenkam, untertraf meine Vorlage. Daraufhin sagte ich: „Gut. Ich verstehe dich nicht. Verstehst du mich?“ Er nickte brav. Dann sagte ich ihm weise: „Ich merke, dein Durst ist groß. Warte dort auf der Bank, ich hole uns Bier.“ Er setzte sich auf die Bank und wartete. Ich wühlte mein Handy aus der Tasche und rief die Polizei. Es war klar, dass er keinem Taxifahrer mehr würde sagen können, wohin er wollte. Er sah mich an, treuen Blicks und sagte: „Lllolllullllllelllllhhlllgg? Bier?“ Bier war das erste klare Wort, das dieser tolle Mensch sagte. Ich sagte: „Ja, gleich, ich muss nur noch ein paar Minuten an dieser Stelle stehen.“ Dieser irre Satz beruhigte ihn völlig, wieder wartete er brav. Und schlief ein. Als er erwachte, standen zwei Unformierte vor ihm. Er schrie: „Hurra.“ Sie hatten ihm jedoch kein Bier mitgebracht. Aber sie brachten ihn, nachdem sie seinen Ausweis gefunden hatten, nach Hause. Auch gut. JÖRG SUNDERMEIER