: Der Schattenmann
Die Retrospektive der Berlinale ist diesmal Friedrich Wilhelm Murnau gewidmet. Eine Ausstellung zeigt unter anderem Stereoskopien, die der Stummfilmregisseur in den Zwanzigerjahren aufnahm
von MADELEINE BERNSTORFF
„In Hollywood wurde er einbalsamiert, geschminkt auf weißen Atlas in einen Glassarg gelegt. So kam er zu uns zurück. Wir hatten nicht darum gebeten. Er sah unwirklich aus wie eine Schaufensterfigur und sich selbst nicht ähnlich.“ – So die Schriftstellerin Ruth Landshoff-Yorck, die als Schülerin in Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“(1921/22) gespielt hatte, nach dessen frühen Tod 1931, der wie sein Leben umgeben blieb von Legenden.
Eine große Retrospektive der Filme des Regisseurs F. W. Murnau ist nun im Rahmen der Berlinale zu sehen. Dazu erscheint ein Katalog mit Originalbeiträgen, und in einer kleinen, exquisiten Ausstellung werden neue Dokumente aus dem kürzlich erworbenen Nachlass des 1888 in Bielefeld unter dem Namen Friedrich Wilhelm Plumpe Geborenen gezeigt. In der zensurfreien und filmhungrigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte er angefangen Filme zu drehen und vermochte es sehr schnell, auf dem Hintergrund der alten Künste die immer noch neue Kunst im Vollbegriff ihrer technischen Möglichkeiten voranzutreiben. Viele seiner Filme sind Höhepunkte der späten Stummfilmgeschichte: „Nosferatu“ (1921/1922), „Faust“ (1925/26), „Der Letzte Mann“(1924), „Sunrise“(1926/27), „Tabu“(1930/31). Fast die Hälfte seines Oeuvres von 21 Filmen gilt als verschollen, die erhaltenen zwölf Filme werden in den bestmöglichen Fassungen gezeigt. Dazu gibt es dokumentarisches Material, etwa den Fernsehbeitrag „Phantombilder“ (1988) von Frieda Grafe und Enno Patalas oder das DDR-Fernsehporträt von Fred Gehler und Ullrich Kasten von 1981/82. Weitere Filme aus dem Umfeld von Murnau werden vorgeführt, wie z. B. Frank Borzages Melodram „The Seventh Heaven“ mit Janet Gaynor, und einige Südseefilme, etwa „Legong – Dance of the Virgins“(1935) von Henri de la Falaise.
Zu F. W. Murnau gehören seine Mitarbeiter: der kleine Drei-Zentner-Mann Karl Freund, sein Kameramann nicht nur beim „Letzten Mann“. Freund ersetzte die Kamerakurbel durch eine motorgetriebene Schwungscheibe und schnallte sich die gerade neu entwickelte Leichtkamera „Stachow-Filmer“ vor den Bauch. Frieda Grafe: „Wie ein Geschoss bewegte er sich (…) Seine Kamera ist Auge und Körper, die eintauchen in die Darstellungsmaterie und sie von innen und außen erfahren lassen.“ Freund wiederum schreibt – uneitel wie er war – die „Erfindung“ der „entfesselten Kamera“ dem genialen (Murnau-)Drehbuchautor Carl Mayer zu, der mit seinem filmtechnikgerechten Sehen und Schreiben für die gestischen und affektiven Momente des Films eine bahnbrechende Ausdrucksform gefunden hatte.
„ … die Alster herrlich, die Pagen süß …“, schwärmt Murnaus guter Freund, der Schauspieler Conrad Veidt, 1924 in einem Brief. Die beiden kannten sich aus der Schauspielschule und hatten später zusammen eine Produktionsgesellschaft gegründet und fünf Filme miteinander gedreht: erhalten sind nur ein winziges Fragment von „Satanas“ (1919) und „Der Gang in die Nacht“ (1920). Zu Murnau gehört aber auch die Grande Dame der Filmgeschichte, Lotte Eisner, die als Erste ausführlich über Murnaus Werk nachdachte. Murnau war nach seinem Erfolg mit dem „Letzten Mann“ von der Fox in die USA geholt worden und bekam die Möglichkeit, „Sunrise“ mit allem denkbaren Aufwand zu inszenieren. Schon beim nächsten Film musste er Zugeständnisse machen, da „Sunrise“ die Produktionskosten nicht eingespielt hatte. Lotte Eisner erzählt von den Dreharbeiten zu „Tabu“ und der Zusammenarbeit Murnaus mit dem großen Regisseur des (inszenierten) Dokumentarfilms, Robert Flaherty. Die beiden hatten unter den industrialisierten Arbeitsbedingungen in Hollywood gelitten, zueinander gefunden und geplant, einen Film in der Südsee zu drehen. Flaherty schrieb die Vorlage für „Tabu“, zog sich aber nach Konflikten aus der gemeinsamen Arbeit zurück.
Lotte Eisner führt aus, wie in „Tabu“ die Geschichte der unmöglichen Liebe in dem Südsee-Ethnotopia über Schattenwirkung erzählt wird, Schatten, die das Unheil auf die Idylle wirft. Murnau sagte über den „Letzten Mann“: „ … ich wollte, dass die Kamera Schatten von Gefühlen zeigt, die völlig neu und unerwartet sind: In jedem von uns ist ein unbewusstes Selbst, das in einer Krise ausbrechen kann, auf die seltsamste Weise …“
In Murnaus Nachlass fanden sich an die zweihundert Glasnegative, Stereoskopien, die er seit 1923 bis zu seinem Tod 1931 belichtet hatte. Es sind Erkundungen in die Tiefe des Raums. Jeweils zwei leicht versetzt aufgenommene Bilder erscheinen bei der Betrachtung durch den Stereoskopen dreidimensional. Bereits 1860 waren in Europa über eine Million Stereoskope und Stereokarten verkauft worden, jeder namhafte Kamerahersteller war darauf bedacht, stereoskopische Aufnahmegeräte im Programm zu haben.
Einige dieser Bilder sind in der Ausstellung im Berliner Filmmuseum zweidimensional zu sehen. Sie zeigen moderne amerikanische Städte, New York vor allem, und San Francisco. Wir sehen die typische Backsteinarchitektur New Yorks, eine Straße, in der ein mittlerer Wolkenkratzer in Skelettbauweise errichtet wird, Straßenverkehr und eine hügelige Fahrbahn in San Francisco, mit zwei Zeitungsjungen im Vordergrund, einer blickt stolz und geschäftig in die Kamera.
Weitere Stereoskopien im Nachlass harren noch der Veröffentlichung: das Foto von der Jacht, mit der Murnau in die Südsee zu den Dreharbeiten für „Tabu“ fuhr, etwas flau, ein Sehnsuchtsmotiv. Naturaufnahmen lassen erkennen, wie sehr Murnau im Naturschönen den Ausdruck seelischer Bewegung sah, wie er die Kunstgeschichte als Inspiration mit sich trug und wie er doch auch den Zugang zur Landschaft in ihrer industriellen Bearbeitung suchte. Und dann die Fotos vom Set von „Sunrise“, ein hinreißendes Bild auf einer Außentreppe des Fox-Studios mit den Kameramännern und weiteren elegant postierten Mitarbeitern, oder eine Studie von dem Café aus „Sunrise“.
In diesem kleinen Archiv zeigt sich aber auch ein Aspekt Murnaus – deutlicher als das „Inuendo“ in Briefen und Filmen: seine Liebe zu Männern. Von der jungen Marlene Dietrich hat sich das Kostüm erhalten, mit dem sie 1922 auf einem Maskenball als „Blue Boy“ nach dem Vorbild des berühmten Gemäldes von Gainsborough auftrat. Schon lange war dieses Bild ein Erkennungszeichen für Homosexuelle: der pagenhafte Knabe im blauen Seidenkostüm, der den einen Arm im „Akimbo“ in die Hüfte stützt. Diese Geste lässt sich zurückverfolgen auf adlige Herrschaftsporträts aus dem 17. Jahrhundert. Der „Akimbo“ galt mit der Machtablösung des Adels durch das Bürgertum als ziselierte, ornamentale Haltung, die der bürgerlichen Attitüde von schlichter Innerlichkeit widersprach und somit als effeminiert und homosexuell interpretiert wurde. Murnaus erster – verschollener – Film, der „schönste und eigenartigste Sensationsfilm“, stammt von 1919 und trägt den Titel „Der Knabe in Blau“.
Murnau hatte das Gainsborough-Gemälde abmalen und mit den Gesichtszügen des beliebten Schauspielers Ernst Hofmann versehen lassen. Der Filmhistoriker Wolfgang Theis liest die Handlung gegen den Strich: „Der Knabe trägt als Kainsmal einen Todessmaragd, der seinem Besitzer nur Unglück brachte und deshalb versteckt werden muss (…) Mit nicht allzu großer Anstrengung ließe sich dieser unheilbringende Stein als homosexuelles Triebschicksal deuten …“
Murnau selbst war zahlendes Mitglied der „Gemeinschaft der Eigenen“, die 1903 aus einer Abspaltung von Mitgliedern des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees um Magnus Hirschfeld hervorgegangen war. Diese Gemeinschaft ging von einer allgemein verbreiteten bisexuellen Veranlagung aus und forderte die Wiederbelebung des griechischen Männlichkeitsideals mit all seinen frauenfeindlichen Implikationen.
Wie wenig wir bei Murnau jedoch mit einfachen Oppositionen wie männlich/weiblich weiterkommen, zeigt sich etwa in dem frühesten erhaltenen Film: „Der Gang in die Nacht“ (1920) handelt von einem Blinden, der sehend und dann wieder blind wird. Ein Fall von männlicher hysterischer Blindheit. Ein Draußenfilm, ein Aufruhr des Begehrens. Die in ihren Wünschen eigenständige Tänzerin Lily sucht sich die Männer aus, erst den wiederstrebenden und aufstrebenden Arzt, dann den geheimnisvollen blinden Maler, von Conrad Veidt gespielt. „Der brennende Acker“ (1922) ist das Drama eines Ehrgeizigen, ein Bauernsohn, der den Atem der großen Welt verspürt und nicht mehr unter Menschen leben kann, „die dumpf sind wie ihr Vieh“. Als der Ehrgeizige von der im Teufelsacker verborgenen Petroleumquelle erfährt und weiß, wer die Erbin dieses Spekulationsobjektes sein wird, sagt er sich ganz nüchtern: „Das wäre ein Ziel.“ Alle werden benutzt und geschmäht, die Liebe der einen und der anderen, die Petroleumquelle explodiert wie eine Rakete beim Fehlstart, und „nie mehr wird das höllische Feuer in ihm erlöschen“.