: „Und das alles in einem Film!“
Martin Scorsese über „Gangs of New York“: „Western trifft auf Gangsterfilm, gekrönt von einem Hauch Bürgerkrieg und der Abschaffung der Sklaverei“
Interview IAN CHRISTIE
taz: Mister Scorsese, wie haben Sie es angepackt, die Welt von „Gangs of New York“ zu rekonstruieren?
Martin Scorsese: Die Unterwelt von „Gangs of New York“ gehört zu einer anderen Zeit. Als Amerikaner bin ich fasziniert von unserer Geschichte. Besonders von der Ostküste und der Entstehung unseres Landes. Je mehr man liest und erlebt, desto mehr begreift man, was unsere Gründerväter eigentlich durchmachen mussten. Damals, vor Urzeiten, nach dem Untergang Roms, als die Goten ganz Italien eingenommen hatten, war England sich selbst überlassen. Und dieses Volk, das mitunter römischer wirkte als die Römer, war gezwungen, seine Kultur ganz neu aufzubauen. Dann kamen die Religionskriege in Europa und die Revolte von Heinrich VIII. gegen die Rechtsprechung des römischen Kirchenstaats. Der Punkt war nicht nur, dass sich jeder scheiden lassen konnte und Heinrich nicht; die Frage war vielmehr, warum sich diese Insel von einer Macht aus einem anderen Land reinreden lassen sollte. Man fängt also an zu verstehen.
Was zu verstehen?
Die Menschen in Amerika hatten genau das gleiche Problem. Und sie mussten sich mit der Freiheit des Einzelnen befassen und, ganz wichtig, auf der Trennung von Kirche und Staat bestehen. Die Unabhängigkeitserklärung zu unterzeichnen war, als unterschrieben sie ihren eigenen Hinrichtungsbefehl – aber sie hörten trotzdem nicht auf, über alles zu streiten. Benjamin Franklin schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: „Besser wird's nicht, Jungs. Ich finde, wir sollten es einfach unterschreiben. Ich wollte, dass der Truthahn unser Nationalvogel ist, aber sie wählten den Adler aus, na und?“ So ungefähr ist das tatsächlich abgelaufen. Aber sie hatten eben auch den außergewöhnlichen Mut, am gleichen Strang zu ziehen. Und während der Revolution verloren sie dann die ganze Zeit, weil sie nicht mal eine Armee hatten. Außerdem standen nicht alle vereint hinter der Sache: Es gab eine Menge Tories in New York, die fröhlich Geschäfte mit England machten und dachten, dass es die Gründerväter wirklich zu weit trieben. Als die Einwanderung gigantische Ausmaße anzunehmen begann, stellte sie die Werte auf die Probe, die Amerika angeblich verkörperte. Das fasziniert mich. Und die Unterwelt Anfang des 19. Jahrhunderts war ganz anders als heute, weil sie engen Kontakt zu politischen Parteien hatte. Ich weiß nicht, ob wir das in „Gangs“ deutlich genug zeigen, aber zumindest ein bisschen davon ist drin, und man bekommt eine Ahnung von den heimlichen Deals mit William Tweed, bevor er „Boss Tweed“ wurde. Die Banden unterstützten Kandidaten und halfen, Wahlen zu manipulieren – was in Amerika inzwischen natürlich nicht mehr passiert!
Wie heißt dieses herrliche Wort aus „Gangs“ doch gleich – revoting? Wieder wählen?
Im Film erzählt jemand Tweed [Darsteller Jim Broadbent], dass er die Wahl mit 10.000 mehr Stimmen gewinnen wird, als es Leute in jenem Bezirk gibt. Tweed antwortet, es werde ein Triumph werden. Helen, meine Frau, fand einen Artikel im New Yorker, gleich nach dem Unentschieden zwischen Gore und Bush, der zitierte, was Tweed 1870 sagte: „Wie oft muss ich euch noch sagen, dass es nicht die Wähler sind, die den Wahlausgang bestimmen. Es sind die Zähler. Zählt noch mal. Und noch mal.“ Das haben wir auch im Film.
Ich bin in Nordirland aufgewachsen, wo man sagt: „Wählt früh und wählt oft.“
Also wissen Sie genau, wovon ich rede. Die Sizilianer sind natürlich ganz anders. Sie lassen sich nicht mal aufs Wählen ein, weil sie dem Ganzen nicht trauen. Aber als die Iren nach Amerika kamen, passierte diese außergewöhnliche Sache: Das Land wird zum ersten Mal auf die Probe gestellt. „Bringt uns die Obdachlosen und die Armen“ – bitte schön, da habt ihr sie, in wahnsinnigen Mengen quellen sie aus den Booten. Nach Meinung der Angloamerikaner jener Zeit stellten sie eine Gefahr dar: Der Charakter Amerikas würde sich vollständig verändern.
Die Annahme ist weit verbreitet, dass es schon immer das Schicksal Amerikas gewesen war, die „armen, dicht gedrängten Massen“ aufzunehmen. Tatsächlich kam das erst später, nach der ersten Welle irischer Immigranten.
Es ist interessant, dass das Land in Wahrheit noch nicht zu seiner Endform gefunden hatte, als die Revolution gewonnen war. Das fing erst nach dem Bürgerkrieg an. Und der Film zeigt Amerika während der Auseinandersetzungen Anfang der 1860er. Obwohl es die Sklavereigegner und John Brown gab, wurden Schwarze in den Straßen von New York angegriffen, der Rassismus, den wir im Film zeigen, ist deswegen auch ziemlich heftig. Dann begann so langsam die Idee vom Schmelztiegel Amerika aufzutauchen, ausgelöst durch die Ankunft der Iren in den 1840ern. Aber: Diese Leute sprachen Gälisch, und vor allem dachten die protestantischen Amerikaner, dass sie zum Vatikan gehörten. An einer Stelle sagt Bill der Metzger: „Wie wählen die denn? Ihr Erzbischof sagt ihnen, wie sie wählen sollen. Und wer sagt's dem Erzbischof? Ihr König mit dem spitzen Hut in Rom.“
Bill der Metzger ist einer dieser übermenschlichen Charaktere in Asburys Buch.
Wir änderten seinen Namen in William Cutting und ließen ihn später sterben als den wirklichen Bill Poole, der 1855 umgebracht wurde. Er ist ein ziemlich grober Typ, was auch mit daran liegt, dass sein Vater von den Briten getötet wurde, als er noch ein Baby war. Wir haben es so arrangiert, dass er genau dann auf die Welt kommt, als sein Vater in der Schlacht bei Bridgewater 1814 getötet wird. Da sind die Amerikaner von den Kanadiern abgeschlachtet worden, als sie versuchten, denen die Niagarafälle abzunehmen. Kein Wunder, dass William ausflippt, als es darum geht, Amerika Menschen zu überlassen, die bei seiner Entstehung nicht dabei waren. Ebendas ist der politische Hintergrund des Films: der Nativismus, also die Überzeugung, dass nur diejenigen Rechte haben, die in Amerika geboren sind. Dafür mussten wir dann einen Beweggrund finden. Daraus entstand also eine ganz einfache Rachegeschichte.
Skizzieren Sie uns bitte den Plot dieser Rachegeschichte.
Ein Junge, gespielt von Leonardo Di Caprio, wird mit acht Jahren zum Waisenkind, das ist 1846. Sein Vater kommt um, als er die Dead Rabbits und andere irische Banden in einen offenen Kampf gegen die Nativisten führt. Der Junge sieht, wie Bill der Metzger seinen Vater umbringt. Dann wird er von den Nativisten für 15 Jahre in eine Besserungsanstalt geschickt, den Fluss rauf nach Hell's Gate. Als er danach zurück nach New York kommt, hat er in Sachen Stammesloyalität nur eins im Sinn: Blutrache. Er schlägt sich also durch bis in die Five-Points-Gegend zurück, das Messer, mit dem sein Vater ermordet worden ist, hat er dabei, und damit wird er Bill töten müssen. An dieser Stelle verlassen wir die Szene und kümmern uns um andere Aspekte. Der Junge, Amsterdam, lässt sich mit ein paar anderen jungen Leuten ein. Eine davon ist die Taschendiebin Jenny, Cameron Diaz. Und natürlich gibt's eine Liebesgeschichte zwischen Amsterdam und Jenny. Eins der wichtigsten Elemente in einer Geschichte über einen Rachemord wie diesen musste sein, dass Bill der Metzger immer noch eine ziemlich wichtige Rolle in dieser Gegend spielt. Na ja, die einen Historiker sagen, die Nativisten hätten das Sagen gehabt, die anderen sagen, dass die irischen Banden da längst die Macht übernommen hatten. Für unsere Zwecke spielt das wirklich keine Rolle. Amsterdam muss auf einen geeigneten Zeitpunkt warten, denn wenn du ein so hohes Tier umbringen willst, brauchst du erst sein Vertrauen, damit du die Rache wie ein Ritual zelebrieren kannst. Aber als Amsterdam Bill kennen lernt und Bill ihn, gibt es noch eine Komplikation: Er fühlt sich zu Bill hingezogen, als ein Junge, der seinen Vater verloren hat. Es gibt also eine gewisse Ambivalenz. Schließlich legt sich Amsterdam eine Taktik zu, mit der es klappt. Irgendwie also repräsentiert Amsterdam die Neue und Bill die Alte Welt.
Dieser Film ist für Sie in narrativer Hinsicht eine Mischung aus alter und neuer Masse, oder?
Vater-Sohn-Geschichten haben mich schon immer beschäftigt. Aber besonders seit dem Tod meines Vaters denke ich immer wieder über mein Verhältnis zu ihm nach. Aber Sie sprachen gerade über Erzählweisen?
Na ja, in mancher Hinsicht macht sich der Film eine Erzählweise zu Eigen, die typisch ist für das 19. Jahrhundert, zum Beispiel wie bei der epischen Rachegeschichte „Der Graf von Monte Cristo“ von Dumas.
Genau, Edmond Dantès. Ich hatte immer das Gefühl, der Film hat viel davon.
Aber das ist doch in erster Linie, was Narration vorantreibt …
(lacht) Ich glaube, darum fand ich es so schwierig.
… Maskierungen, Hindernisse, Skrupel, all das braucht man, um das komplizierter zu machen, was sonst eine geradlinige Geschichte über Rache wäre.
Wir haben es komplizierter gemacht, weil mich die Gefühle interessierten. Ausgangspunkt war eine Geschichte über einen Sohn, der einen Vater braucht, und einen Vater, der einen Sohn braucht. Das alles vor dem Hintergrund: Grenzgebiet trifft auf Stadt, oder: Western trifft auf Gangsterfilm, gekrönt von einem Hauch Bürgerkrieg und der Abschaffung der Sklaverei. Und das alles in einem Film!
Wir sind es eher gewohnt, dass diese Themen in den etablierten Genres behandelt werden: Sie spielen in ihren „richtigen“ Epochen oder werden sozusagen aus der historischen Vogelperspektive gezeigt. Die Figuren der Zeitgeschichte, unverfälscht genau da, wo sie hingehören.
Nun, wir blicken eher vom Boden aus nach oben, oder sogar von noch weiter unten. Als er mit seiner Taktik keinen Erfolg hat, wird Amsterdam zurück in das blutige Stammesritual gezogen. Und keiner von den Stammesleuten ahnt etwas von den nationalen Ereignissen, die kurz darauf über New York hinwegfegen. Gerade also, als sich der Kampf der Banden zuspitzt, genau da fangen die Draft-Aufstände an, die schlimmsten Aufstände in der amerikanischen Geschichte, als der ganze Mob die Stadt angreift. Sie attackiert sich sozusagen selbst. Die Soldaten kamen daraufhin aus Gettysburg hoch und fingen an, aus Haubitzen Granaten abzuschießen. Im Film vermischen wir an dieser Stelle ein paar geschichtliche Einzelheiten, aber wir haben Kanonenboote vor der Wall Street, bereit, die Münze zu verteidigen. Und gerade als wir in Rom mitten in diesen Kämpfereien waren, erfuhren wir, dass das World Trade Center zusammengestürzt ist.
Hatte das irgendeine Auswirkung auf die Filmarbeiten?
Zuerst dachten wir, die Welt sei eine andere. Aber in meinen Augen rächen sich Amsterdam und Bill nicht einfach nur am Tod ihrer Väter, in einem Ritual verletzter Liebe. Die Neue und die Alte Welt spielen auch eine Rolle, und da ist Amsterdam offener für die möglichen Zukunft Amerikas. Für Bill dagegen ist ganz klar, wie diese Zukunft nicht auszusehen hat, wenn er es denn beeinflussen könnte. Irgendwie kämpfen sie also genau um die Dinge, um die auch bei den Draft-Aufständen und im Bürgerkrieg gekämpft wurde. Ich glaube, das Schwierigste bei dem Film war, dass wir immer noch eine historische Schicht hätten auftragen können, und noch eine und noch eine und noch eine.
Sie haben in der römischen Filmstadt Cinecitta gedreht, in Rom geschrieben und umgeschrieben. Das riesige Set muss doch eine Inspiration an sich gewesen sein. Es ist das umfangreichste bewohnte Set, das ich je gesehen habe. Es war ein unglaubliches Erlebnis, darin herumzulaufen.
Wir haben alles maßstabgetreu und mit Liebe zum Detail gebaut, damit wir darin herumlaufen und improvisieren konnten. Es war fantastisch. Und die verschiedenen Überarbeitungen: die fielen mir beim Drehen ein. Ich ertappte mich dabei, dass ich [Michael] Ballhaus ansah und sagte: „Wir werden noch eine straffere Version machen, aber mit dieser hier werden wir wohl erst mal weitermachen.“ Weil so viele Statisten und Hintergrundleute dabei waren, ging ziemlich viel Zeit dafür drauf, die Nebenszenen zum Laufen zu bringen.
Aber es gibt eine wichtige Sequenz in der chinesischen Pagode, die genau so gedreht wurde, wie wir sie entworfen haben. Der echt Bill der Metzger, Bill Poole, hätte wahrscheinlich sein Können als Messerwerfer gezeigt, als Metzger konnte er mit Messern natürlich ziemlich gut umgehen. Wir weiten das aus und verleihen dem Ganzen eine traumähnliche Note, das ist die Szene, in der Bill seine kleine Messerübung mit Jenny macht. Daniel [Day-Lewis, Bill-Darsteller] will also gerade seinen Satz sagen, dann, gerade als er zum Sprechen ansetzt, machen wir alles in Zeitraffer und gehen zurück zum normalen Tempo, damit der Dialog wieder synchron ist, und verlangsamen auf Zeitlupe, sobald er aufhört zu reden.
So etwas Ähnliches haben Sie auch in „Goodfellas“ gemacht, oder? Etwa als Sie an der Bar entlang auf De Niro zugleiten, nach dem Raub.
Ja, das fing bei 24 bis 36 Bildern pro Sekunde an. Dank dieser Technik bekomme ich einige spannende Momente, für die Aufnahmen von den Augen. Das ist auch in „Goodfellas“ passiert – wie De Niros Auge an einem bestimmten Punkt geglüht hat. Solche Sachen eben, die man erst entdecken muss.
Obwohl „Gangs“ in Kürze rauskommt und Sie in den nächsten Monaten mit der Promotion des Films beschäftigt sein werden, haben Sie nebenher an einer ganzen Reihe anderer Projekte gearbeitet, oder?
Ich habe in letzter Zeit eine ganze Menge Material gelesen, und zum ersten Mal seit langem bin ich für viele Sachen offen. Ich würde jetzt wirklich gerne „Silence“ [dt. Buchtitel: „Schweigen“] drehen, aber das geht nicht, weil ich als nächstes etwas machen muss, was ein bisschen größer ist. „Silence“ basiert auf Shusaku Endos Roman über die Verfolgung und das Märtyrertum katholischer Missionare in Japan. Das ist eines der Herzblutprojekte, die ich mit mir rumtrage. Ein anderes wäre Alexander der Große gewesen, was ich noch immer gern machen würde, falls das Thema jemals wieder zu haben ist. Irgendwas über die Antike, obwohl es auch toll wäre, etwas Moderneres zu machen. Es sieht aber so aus, als sei „The Aviator“ das Nächste. Es ist die Geschichte über Howard Hughes [ein Hollywood-Mogul Anfang des 20. Jh.] und spielt zwischen Mitte der 20er- und Mitte der 40er-Jahre. Ich bin in den Vierzigerjahren geboren, es ist also eine Zeit, die ich zu kennen glaube. Mich interessiert zwar auch Hughes’ Verhältnis zu Hollywood. Aber mich fasziniert in erster Linie dieser Besessene, besessen vom Fliegen und der fixen Idee, der schnellste Mann der Welt zu sein. Ein echter, herrlicher, zwanghafter Wahnsinn. Und dann natürlich der mythische Aspekt seines Untergangs: Wen die Götter zerstören wollen, den verwandeln sie zuerst in einen Geisteskranken.
Dieses (von der taz gekürzte) Interview ist ein Nachdruck aus der britischen Zeitschrift Sight and Sound und bildet einen Teil der neuen Ausgabe des Buchs „Scorsese on Scorsese“ von David Thompson und Ian Christie. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Anne Haeming.