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Archiv-Artikel

„Der Tod war die bessere Option“

Alexej Weizen war am Aufstand im Vernichtungslager Sobibór beteiligt, den nur 47 Menschen überlebten. Am 14. Oktober 1943 töteten die Aufständischen elf SS-Leute und einige Wachmänner. Nach der Revolte ließ Himmler das Lager schließen

AUFSTAND IN SOBIBÓR

Alexej Weizen ist 86 Jahre alt. Er lebt heute in Rjasan, einer mittelgroßen Stadt in der Nähe von Moskau. Weizen ist einer der letzten Überlebenden des Aufstands im NS-Vernichtungslager Sobibór am 14. Oktober 1943. Unter der Führung des Rotarmisten Alexander Pecherski und Leon Feldhendlers, dem Sohn eines polnischen Rabbiners, gelang es den Aufständischen, unbemerkt elf deutsche SS-Leute und einige Wachmänner der Hilfstruppen zu töten. Dann wurde das Feuer auf sie eröffnet. Knapp die Hälfte der 600 Insassen konnte fliehen, davon überlebten jedoch nur 47. Einige starben in den Minenfeldern, andere wurden gefangen und ermordet. Möglicherweise wurden einige der Geflüchteten von der polnischen Untergrundarmee getötet. Die meisten der Überlebenden wurden von polnischen Familien versteckt. Leon Feldhendler wurde im Januar 1945 von der Polnischen Heimatarmee durch die Wohnungstür erschossen – ob aus Versehen oder aus antisemitischen Motiven, ist umstritten. Pecherski wurde, zurück auf sowjetischem Territorium, vom NKWD verhaftet.

INTERVIEW ARTUR SOLOMONOW

taz: Herr Weizen, Sie kamen im Mai 1942 im Vernichtungslager Sobibór an. Erinnern Sie sich an die Fahrt dorthin?

Alexej Weizen: Alle im Viehwaggon haben gewusst, dass wir ins Vernichtungslager gebracht werden. Wir alle haben gewusst, dass sie uns dorthin bringen, um uns zu töten, und dass, wenn wir dort ankommen, unser Leben zu Ende ist. Ich begann schon auf der Fahrt ins Lager auf den Tod zu warten. Im Lager Sobibór wartete ich dann ständig auf ihn. Jede Minute, jede Sekunde war ich mir bewusst, dass sie mich umbringen können. Sie konnten dich einfach so umbringen, weil sich dein Blick zufällig mit dem eines Aufsehers traf oder weil sie einfach schlechte Laune hatten. Bis zum Oktober 1943, mehr als ein ganzes Jahr lang, wurde mein Dasein bestimmt von einem einzigen Gedanken: Ich wartete auf den Tod. Jeden Augenblick.

Wie sah so ein Tag im Lager aus?

Sie haben gemordet. Dann gaben sie denen zu essen, die noch arbeiten konnten. Und dann machten sie sich wieder ans Töten. Von fünf Uhr morgens bis in den späten Abend hinein musstest du arbeiten, und die ganze Zeit hast du darauf gewartet, dass sie dich umbringen, weil du irgendetwas nicht richtig gemacht hast oder weil irgendjemand einfach Lust hat, dich umzubringen. Jeden Tag kamen neue Viehwaggons voll mit Menschen im Lager an. Die Deutschen griffen sich fünf bis zehn Gesunde aus jedem Viehwaggon, die anderen trieben sie sofort in den Vergasungswagen. Immer beobachtete einer der Aufseher das Sterben durch ein Fensterchen in der Tür. Und dann haben wir uns gewehrt. Ich war einer der Aufständischen. Denn für uns war der Tod die bessere Option, besser als das Lagerdasein mit dieser ständigen Angst. Es war wie beim Kartenspiel: Du setzt alles auf eine Karte und gewinnst oder verlierst. Es stand fünfzig zu fünfzig: Entweder zerstören sie uns – oder wir sie.

Hatten Sie einen Freund in Sobibór?

Jeden Tag wurde gefoltert, geschossen und gemordet. In solch einer Welt war keine Freundschaft möglich. Erst Alexander Pecherski, der Anführer des Aufstands, schuf im Lager eine Atmosphäre, in der so etwas Ähnliches wie Kameradschaft unter den Gefangenen möglich war. Bald nach seiner Ankunft gründeten wir ein Untergrund-Komitee.

Erinnern Sie sich an die erste Begegnung mit Alexander Pecherski?

Wenn Alexander Pecherski nicht gewesen wäre, hätten sie uns alle ermordet. Er hat uns zum Aufstand geführt. Wir haben die Deutschen einzeln umgebracht – insgesamt 14 Deutsche. Als ersten töteten wir Johann Niemann, den Stellvertreter des Lagerkommandanten.

Hatten Sie Gewissensbisse, als Sie die Deutschen umbrachten?

Welche Gewissensbisse? Wenn wir sie nicht ermordet hätten, hätten sie uns umgebracht. Und dann flohen wir. Viele Häftlinge starben, als sie den Stacheldrahtzaun mithilfe ihrer Körper zerstörten. Mit einem lautem Hurra warfen sie sich gegen den Stacheldraht – dann kamen andere und kletterten über die ersten hinweg in die Freiheit, während ständig auf sie geschossen wurde.

Im Jahre 1965 sagten Sie in einem Prozess gegen die Trawniki genannten ukrainischen Hilfskräfte in Sobibór aus. Sie hatten den ehemaligen Trawnik Saizew wiedererkannt, worauf er im südrussischen Krasnodar vor Gericht gestellt wurde. Wie verhielt sich Saizew, als er denen gegenüberstand, die er damals gefoltert hatte?

Saizew versuchte natürlich seine Haut zu retten. Aber er war eine Bestie. Er hat unzählige Kinder und Alte erschossen. Und während des Prozesses versuchte er sich dann auf jede erdenkliche Art und Weise zu rechtfertigen.

Gab es unter der SS und den Wachleuten niemanden, der sich wie ein Mensch benahm?

Nein. Keinen einzigen.

Sie reden nicht gern über das Lagerdasein, sie reden lieber über den Aufstand.

Ja, wenn ich an Sobibór denke, erinnere ich mich sofort an den Aufstand. Ich denke an den Moment, als wir begriffen, dass wir dem Tod entrinnen können. An die Dinge, die vor dem Aufstand geschahen, denke ich nicht. Viele der Überlebenden von Sobibór besuchten die Gedenkstätte Sobibór, um der Toten zu gedenken: Ich war lange genug an diesem Ort. Ich kann nicht dorthin zurückkehren.

Als sich der Anführer des Aufstands, Alexander Pecherski, wieder auf sowjetischem Territorium befand, wurde er in ein Strafbataillon gesteckt. Erst als er verwundet wurde, erhielt er eine Bescheinigung: Nun habe er „sich von der Schuld gegenüber der Heimat mit seinem Blut freigekauft“.

Alexander Pecherski war Offizier, und die höheren Armeekader hatten nicht das Recht, in Kriegsgefangenschaft zu geraten. So lautete das Gesetz. Uns, den gewöhnlichen Soldaten, wurde eher verziehen.

Sie haben 25 Jahre in der Roten Armee gedient, aber sie wurden nie befördert – denn sie waren ein ehemaliger Kriegsgefangener.

An eine Beförderung habe ich niemals gedacht. Ich konnte so etwas auch nicht verlangen.

Warum?

Weil ein Soldat der Roten Armee nicht das Recht hatte, in Kriegsgefangenschaft zu geraten. So lautete das Gesetz.

Ein ungerechtes Gesetz.

Aber so war damals das Gesetz! Nach dem Aufstand schlug ich mich zu den Partisanen durch, dann schloss ich mich den kämpfenden Truppen an. Ich eroberte Brest, dann fiel ich mit der Roten Armee in Polen ein. Wir eroberten Danzig und überquerten später die Oder. Sehen Sie, ich kehrte in unsere Armee zurück, ich kämpfte und ich überlebte. Ich sprang 998-mal mit dem Fallschirm ab. Ich habe Glück gehabt.

Meinen Sie das ernst?

Ja, natürlich. Wissen Sie, das Leben ist ein wertvolles Gut, um das man kämpfen muss.

Nach dem Krieg kehrten Sie nach Chodorow, die Stadt Ihrer Kindheit, zurück.

Keiner aus meiner Familie hatte dort – in dieser Kleinstadt südlich von Lwiw (Lemberg) – überlebt. Alle wurde von den Deutschen erschossen.

Thomas Blatt, wie Sie Überlebender des Vernichtungslagers, traf sich 1984 mit Karl Frenzel, dem Kommandanten des jüdischen Arbeitskommandos. Er war einer der grausamsten Mörder von Sobibór. Wären Sie bereit, sich mit so einem Menschen zu treffen?

Ich würde mich mit ihm nur treffen, um ihn zu töten. Ich würde mit ihm kein Wort wechseln.

Karl Frenzel versicherte im Gespräch mit Thomas Blatt, dass er jede Nacht Albträume habe: Sobibór suche ihn heim.

Diese Albträume soll er haben. Karl Frenzel war eine Bestie. Wenn ihm irgendetwas nicht passte, zückte er die Waffe und schoss. Es fällt mir besonders schwer, davon zu erzählen, weil einige dieser Verbrecher – sie haben Tausende von Menschen mit der eigenen Hand umgebracht und sich daran gelabt – heute noch leben. Für diese Verbrecher aber soll es keinen Platz unter den Lebenden geben. Einige sind sogar aus dem Gefängnis entlassen worden und starben unbehelligt in ihrer Heimat. Und andere hat man bis heute nicht gefunden und bestraft. Aus diesem Grund fällt es mir so schwer, an diese Zeit zu denken. Warum haben sie Karl Frenzel 1980 aus dem Gefängnis entlassen? Er sollte dort einfach verrecken.

Gustav Wagner, Stellvertreter des Lagerkommandanten, flüchtete nach Brasilien. Er wurde erst 1978 festgenommen.

Ich möchte nicht darüber reden. Gustav Wagner hat Babys vor den Augen ihrer Mütter in Stücke gerissen. Er ist es nicht wert, dass man ihn auch nur mit einem Wort erwähnt. Ich kann das alles nicht vergessen und will mich doch eigentlich überhaupt nicht daran erinnern. Ich erzähle das alles … Und zittere dabei, denn das alles habe ich erlebt.

Kurt Bolender, in leitender Stellung im Vernichtungsbereich des Lagers, konnte sich bis 1961 verstecken.

Kurt Bolender hetzte Hunde auf die Häftlinge und befahl ihnen, fleischgroße Stücke aus deren Körpern zu reißen. Bolender nannte seinen Hund „Mensch“ und die Gefangenen „Hunde“. Wenn er die Hunde auf diese hetzte, schrie er: „Mensch, fass Hund!“ Was ich erlebt habe, weiß nur Gott. Alles, was war, dreht sich in meinem Kopf – ständig. Ich sehe alles vor mir – als ob es gestern wäre. Um davon erzählen zu können, muss man Abstand gewinnen. Und genau das gelingt mir nicht.

Aus dem Russischen von Katja Kollmann