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: Zuhausebleiben ist der neue Trend und Aldi der neue Szenetreff

Armut wird chic

Der neue Trend des Zuhausebleibens hat sich, kaum an dieser Stelle besprochen, total verbreitet. Immer mehr Menschen beschließen zu kochen oder zu schlafen. Das hauptstädtische Nachtleben liegt faktisch darnieder, weil die Mehrheit der so genannten Clubgänger begeistert die Freuden des Zuhausebleibens für sich entdeckt hat. Inzwischen sprechen die Berliner Clubbetreiber bereits öffentlich über ihre Umsatzeinbußen, und Soziologen und Trendforscher beschäftigen sich mit der neuen Mode für zu Hause. Die Lokalitäten der Nacht verwaisen zunehmend, dafür gibt es jetzt ganz neue Spielarten und Stätten des geselligen Beisammenseins.

Eine brandneue Clubidee hat sich in Berlin durchgesetzt: Der moderne Großstadtmensch bleibt abends zu Hause und hängt nachmittags regelmäßig beim Szenetreff Aldi ab. Die einst belächelten Schmuddelsupermärkte sind zu glamourösen Pfeilern des Soziallebens geworden.

Wie so vieles nahm auch diese Entwicklung in Kreuzberg ihren Anfang. Der Aldi-Markt war bislang nur in Konsumentengesprächen theoretisch abgehandelt worden. Die Geschäftsidee wurde als originell bewertet, der angeblich so faire Umgang mit den Angestellten und ihre im Vergleich mit den sklaventreiberischen Gepflogenheiten des Schlecker-Marktes großzügige Bezahlung wurde von Branchenkennern lobend hervorgehoben. Selten gab am Rande solcher Gespräche jemand zu, das gute Olivenöl und den akzeptablen Rotwein bei Aldi gelegentlich käuflich zu erwerben. Aldi gehörte für jedes halbwegs gesittete Individuum zu den verbotenen Orten. Führten einen widrige Umstände doch einmal hinein, stand man zwischen den Großeinkäufen stoischer, ausländischer Mitbürgerinnen, zwischen krakeelenden Alkoholikern und schimpfenden Psycho-Omas geschlagene 50 Minuten an der Kasse. So mischten sich Menschenhass, Mitleid und Verzweiflung aufs Unschönste und man beschloss, den Billig-Discounter auf ewig zu meiden.

Aber seit ein paar Wochen ist alles anders. Die Aldi-Kundschaft scheint wie ausgetauscht. Schon an Silvester fing es an: Auffällig viele modisch gekleidete Menschen kamen aus den Türen und der Aldi-Champagner musste rationiert werden. Die Stamm-Alkoholiker hängen nun vermehrt vor und im Plus-Markt ab, weil dort das Schnapsangebot in Miniaturfläschchen eh viel größer ist.

Bei Aldi aber trifft sich die Musiker- und Künstlerboheme in der Warteschlange. Auf dem langen Weg zur Kasse ist Zeit genug, über neue Projekte, Schlussverkaufsschnäppchen und das Ende der Ausgehkultur zu plaudern. Dabei ist der Aldi- Club viel multikultureller und ethnisch interessanter gemischt als jede Geheimbar. So hat sich auch wieder ein großes Wort des bekannten Berliner Poeten Funny van Dannen bewahrheitet: „Alle steh’n zusammen, egal woher sie stammen, alle steh’n zusammen bei Aldi vorm Regal – Berlin ist international“.

Hat nun die neue Bescheidenheit und die fortschreitende Verelendung der Massen dazu geführt, dass erklärte Genießer klaglos eingeschweißte Grundnahrungsmittel bei Aldi aufs Band legen? Die berühmte Popliteratin Tanja Dückers hat vor kurzem dem Szene-Magazin „Berlin Ticket“ (SFB) verraten, zwanghaftes Sparen und Secondhand-Kleidung seien der letzte Schrei der Jeunesse dorée vom Prenzlauer Berg. Es könnte also sein, das Armut total chic wird. Vielleicht werden sich die beschäftigungslosen Medienschaffenden und das Clubproletariat künftig statt zum Latte Macciato im Straßen- Café in einer trendy kirchlich betriebenen Suppenküche im Hinterhof treffen.

Nur: Wie hält man dann die echten und die falschen armen Sparer auseinander? Da gibt es eine stramme Grundregel: Wer sowohl im neuen In-Club Wohngeldamt am Nummernautomat als auch im Szene-Hangout Aldi am Regal steht, der gehört wirklich dazu.

CHRISTIANE RÖSINGER