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Archiv-Artikel

Menschen, die Vögel füttern

Mit dem Zerfall des Sozialismus in der Sowjetunion, Mitte der Achtzigerjahre, wurde die Miliz mit immer neuen, früher unbekannten Kriminaldelikten konfrontiert. Besonderes viel Mühe gaben sie sich bei der Ausrottung illegaler Videoclubs und der Drogenszene. Zu dieser Zeit kam der erste sowjetische Videorekorder „Elektronika“ auf den Markt, aber es gab keine Filme dazu.

Die sozialistische Planwirtschaft hatte wieder einmal versagt. Die Filme konnte man nur im Ausland und auf dem Schwarzmarkt erwerben. Das Geschäft mit illegalen Videovorführungen florierte. Jemand, der einen Videorekorder und dazu einen Film besaß, lud Bekannte und Unbekannte zu sich ein und kassierte dafür von ihnen Eintritt.

Es war gegen das Gesetz, aber die kriminelle Handlung war schwer zu beweisen. Die Polizei entwickelte jedoch ziemlich schnell ein wirksame Strategie dagegen. Wenn sie einen Tipp bekam, dass irgendwo heimlich ein Film gezeigt wurde, stellte sie den Strom im ganzen Haus ab. Dann ging sie nach oben, um den Betreiber des Videoclubs auf frischer Tat zu ertappen: Ohne Strom kann man nämlich die Kassette nicht aus dem Gerät rauskriegen.

Damals ließ sich fast jeder Film aus dem Westen als entweder pornografisch oder politisch einstufen – und dafür gab es Knast. Deswegen musste zum Beispiel mein Freund Andrei, der sich gerne mit Freunden Filme anschaute, mehrmals seinen Videorekorder aus dem elften Stock werfen, bevor die Bullen ihn sicherstellen konnten. Langsam entwickelte sich bei ihm diese Vorsichtsmaßnahme sogar zu einem Reflex. Jedes Mal wenn der Strom ausfiel, schnappte er den Videorekorder und rannte auf den Balkon.

Die Videobekämpfung hatte die Moskauer Polizei bald recht gut im Griff. Ihre Drogenbekämpfung dagegen lief oft schief. Das Hauptproblem bestand darin, dass die meisten Bullen gar nicht wussten, was richtige Drogen waren und wie sie überhaupt aussahen. Die sowjetischen Drogenfreaks mussten sich ihre Drogen selbst beschaffen, das heißt, sie mussten zu Mohnplantagen fahren und den Saft aus den Mohnköpfen sammeln. Deshalb konnte das fertige „Produkt“ wie ein Stück schmutziges Toilettenpapier oder auch wie Watte oder Binden aussehen. Und das russische Gras sah oft wie Mahorka aus.

Immer wieder kam es zu Fehlschlägen der Ordnungshüter. 1986 ging ich einmal mit einer großen Tüte Perlgraupen (auf Russisch: perlowka) in der Hand zum Mahnmal für die „Verteidiger von Brest“, um dort die Tauben zu füttern. Man könnte denken, alle Tauben unseres Bezirks lebten in dem riesigen Denkmal aus Stein, einige legen sogar ihre Eier zwischen die Verteidiger der Festung. Plötzlich sprang mich ein Zivilist an. Er sah furchterregend aus: mit einer Narbe quer durchs Gesicht und Handschellen in der Hand.

Der Mann drehte mir die Hand auf den Rücken, riss mir den Beutel mit Perlowka aus der Hand und schrie wie verrückt: „Marihuana, Marihuana!“ Zuerst dachte ich, es ginge ihm nicht gut, doch als ich Plastikhandschellen an meinen Händen sah, wurde mir klar, dass ich in eine Drogenrazzia geraten war.

Sehr unwillig ließen die Polizisten mich nach zwei Stunden wieder los, nachdem sich auf der Wache herausgestellt hatte, dass es kein Rauschgift war; ich bekam meine Perlgraupen jedoch nicht zurück. Den Mann mit der Narbe traf ich Jahre später zufällig in einem Moskauer Spielsalon wieder, wo er anscheinend als Sicherheitskraft untergekommen war. Ich fragte ihn, ob er noch wisse, wie er mir hinterhergelaufen war und „Marihuana!“ geschrien hatte, doch der Mann leugnete den Vorfall und wollte sich an nichts erinnern.