: Menschen, die einander knipsen
Über den wahren Alltag im falschen Sozialismus: Leicht melancholische Erinnerungen an eine versunkene Welt
von WLADIMIR KAMINER und HELMUT HÖGE
In der sowjetischen Schule wurden wir, Kinder, über die gesellschaftlichen Werte mit Hilfe eines Poems des berühmten russischen Dichters Wladimir Majakowski aufgeklärt. Sein Werk mit dem globalen Titel „Was ist gut und was ist schlecht“ mussten wir in der vierten Klasse sogar auswendig lernen.
Einige von uns können sich noch immer gut an ein paar Zeilen aus diesem Gedicht erinnern. Ich zum Beispiel. Die Stelle, wo ein kleiner Junge zu seinem Vater kommt und ihn fragt: „Was ist gut und was ist schlecht?“ Der Vater klärt den Jungen, ohne groß darüber nachzudenken, auf: „Wenn ein Junge Arbeit liebt / geht zur Schule fleißig, / wird er dann zum guten Mann“ – auf Russisch: zum choroschi maltchik.
Des Weiteren fragt der kleine Junge seinen Vater, ob es bei einem guten Mann eine Rolle spiele, für welchen Beruf er sich entscheide. Nein, meint der Vater, das sei in dem Fall vollkommen Schnuppe, Hauptsache, man schuftet gern: „Alle Berufe sind toll, / wähle dir nur einen aus / und mach was draus“ – so sprach der Vater zu seinem Sohn und Majakowski zu uns.
Meine Eltern konnten aber Majakowski nicht beipflichten. Mein Vater hatte oft zu Hause von seiner „Scheißarbeit“ gesprochen. Und beide waren sich mir gegenüber einig: „Wenn du weiterhin so schlampig lernst, wirst du eines Tages als Straßenfeger enden.“ Mein Freund Andrei wurde von seinen Eltern mit Worten wie „Bauarbeiter“ und „Herdenhütter“ regelrecht terrorisiert.
Ich hatte damals eigentlich gar keine Angst vor der Karriere eines Straßenfegers. Ich kannte nur einen – mit dem Spitznamen Marx, weil er sich nie rasierte: Er war Alkoholiker und Hedonist höchsten Ranges. Jeden zweiten Tag lag er im Busch hinter dem Kinderspielplatz, oft saß er aber auch davor mit der Verkäuferin, einem heißen Feger aus dem Lebensmittelladen nebenan, und trank mit ihr Flaschenbier.
Mit einem Besen in der Hand habe ich ihn nur bei großen Feiertagen gesehen. Trotzdem konnten wir Majakowski keinen Glauben schenken, weil wir immer unsere Eltern vor Augen hatten, die alle mir ihren Jobs mehr oder weniger unzufrieden waren. Jeder hätte am liebsten irgendetwas anderes gemacht. Doch in der Sowjetunion war es nicht leicht, eine zufrieden stellende Arbeit zu finden, es gab im ganzen Land nur einen Arbeitgeber – den Staat.
Deswegen kümmerten sich oft die Erwachsenen um ihre Hobbys mehr als um ihren Broterwerb. Bei meinem Vater war die Naturfotografie eine solche Leidenschaft. Menschen, Häuser, Sehenswürdigkeiten interessierten ihn nicht. Stattdessen knipste er fast ausschließlich Vögel, Tiere und Insekten. Immer wieder ging er auf Fotojagd in den Wald und kam oft mit guten Bildern nach Hause zurück.
Mehrmals fotografierte er unter lebensgefährlichen Umständen einen verwilderten Ziegenbock. Dieser war fast das einzige Tier in unserem Wald, er kannte meinen Vater schon und ging jedes Mal auf ihn los, wenn die beiden sich trafen. Deswegen waren die Bilder immer etwas unscharf und erinnerten an eine Corrida.
Trotz des Tiermangels gab mein Vater nicht auf. Er besaß alle Fotoapparate, Vergrößerungsgeräte und andere Fotoutensilien, die man bei uns auftreiben konnte, außerdem tauschte er laufend mit anderen Verrückten Mikroobjektive gegen Makroobjektive oder umgekehrt und suchte nach immer neuen Einsatzmöglichkeiten für seine Ausrüstung. Einmal kaufte er auf dem schwarzen Markt eine besondere Optik, die aus dem wissenschaftlichen Institut zur Erforschung des Universums stammte. Mit dieser Optik wollte mein Vater eine Fotoserie „Die geheime Welt der Moskauer Ameisen“ aufnehmen.
Zu diesem Zweck grub er mitten in einem Gehweg in der Nähe eines Ameisenhaufens eine Grube, die ihm als Beobachtungsposten dienen sollte und in der dann mehrere Radfahrer des Bezirks sich beinahe das Genick brachen. Für seine Passion gab mein Vater eine Unmenge Geld aus, mit der Hobbyfotografie ewas zu verdienen kam ihm nicht in den Sinn. Eine selbstständige Tätigkeit war im Sozialismus verpönt.
Erst Jahre später, im kapitalistischen Berlin, kam er plötzlich auf diese Idee. Er hatte sein gesamtes technisches Arsenal einem Bekannten gezeigt. Der fragte meinen Vater daraufhin, ob er nicht Lust habe, bei der Hochzeit seiner jüngsten Tochter, die in einem russischen Restaurant stattfinden sollte, zu fotografieren – für hundert Euro.
Am Hochzeitstag packte mein Vater seine Fototasche und machte sich auf den Weg. „Der erste Schritt in die Selbstständigkeit“, bemerkte meine Mutter dazu – sie machte sich über ihren Ehemann lustig. Erst am nächsten Morgen kam mein Vater nach Hause zurück. Er war angetrunken und sehr aufgeregt, hatte aber die Fototasche noch bei sich. Die Hochzeit hatte anscheinend großen Eindruck auf ihn gemacht.
Er müsse sofort den Film entwickeln und die Fotos in das Restaurant bringen, meinte er, denn die Feier werde noch mindestens einen Tag dauern. Mit diesen Worten schloss er sich im Badezimmer ein, das ihm vorläufig als Fotolabor diente. Im Ergebnis seiner mehrstündigen Dunkelkammerarbeit kamen vier interessante Bilder zutage.
Auf einem Bild war der verwilderte Ziegenbock aus dem Moskauer Wald zu sehen, der Film hatte acht Jahre in der Kamera gesteckt. Die anderen drei Bilder stammten von der Hochzeit. Auf einem saßen zwei Dutzend Leute am Tisch und schauten in die Teller, auf dem zweiten Bild war der Busen der Braut in Großformat zu sehen. Auf dem letzten Bild sah man erstaunlicherweise meinen Vater. Er lächelte einer molligen Dame zu, als würde er ihr gerade einen Witz erzählen.
Wie dieser Schnappschuss zustande gekommen war, konnte mein Vater nicht erklären. Meine Mutter schaute die Fotos an und empfahl ihm, das mit den Hochzeiten sein zu lassen und sich in Zukunft wieder mehr auf Ameisen zu konzentrieren. Ich fand die Bilder jedoch authentisch, originell und saugut.
WLADIMIR KAMINER, Jahrgang 66, kam Anfang der Neunzigerjahre nach Berlin und wurde von HELMUT HÖGE, taz-Kolumnist, Jahrgang 47, „entdeckt“. Der eine ist nun berühmt („Russendisko“), der andere immer noch Impresario. Die beiden Storys entnahmen wir ihrem Buch „Helden des Alltags“ (Goldmann, München 2002, 160 Seiten, 14,90 Euro)