Organisierte Ungewissheit

Der „Krieg gegen den Terror“ mobilisiert einen enormen Bedarf an innerer Sicherheit. Gesetzesverschärfungen greifen auf Argumente zurück, die vor allem eins sind: alt und rein rhetorisch. Eine Kritik

von HORST MEIER

Zu den Folgen des 11. September gehört, dass in der gesamten westlichen Welt der Staat als Ordnungsmacht wiederentdeckt wird: jener Nationalstaat, den viele im Zeichen von Globalisierung und multinationaler Konzernmacht als handlungsunfähige Instanz, als „orientierungslosen Leviathan“ schon abgeschrieben hatten. Solche Abgesänge klingen wie ein Echo aus ferner Zeit. Nun herrscht Krisenbewusstsein. Der bange Ausblick auf den „ersten Krieg des 21. Jahrhunderts“ lässt die theoretisch verspielte Rhetorik vom „Ende des Staates“ verstummen.

Der Staat möge um Himmels willen den Schutz von Leib und Leben gewährleisten, lautet die Forderung des Tages. Also mehr Geld, Personal und Befugnisse für Polizei und Geheimdienste. Also Rasterfahndung nach „Schläfern“ und Lauschangriffe gegen Unverdächtige, die vielleicht einen Verdächtigen kennen. Oder den Fingerabdruck im Ausweis, der daran erinnert, dass in jedem Bürger ein potenzieller Verbrecher steckt. Mehr von allem, was Halt und Trost verspricht. „Meine Bemühungen“, so der Bundesinnenminister, „gehen dahin, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Ich orientiere mich an dem Grundrecht auf Sicherheit.“ Ein „Grundrecht“ auf Sicherheit? Das Stichwort lässt aufhorchen.

1982 sprach der konservative Staatsrechtslehrer Josef Isensee vor der Berliner Juristischen Gesellschaft über die „Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates“. Seine Thesen, auf die sich die Politik bis heute beruft, laufen in dem programmatischen Titel zusammen: „Das Grundrecht auf Sicherheit“. Sie handeln vom Versuch, den Primat der Ordnung verfassungsrechtlich zu begründen. Isensee proklamiert zwar „die Sicherheit freier Bürger“ und will den Staatstanker zwischen den Klippen von „Despotie und Schwäche“, zwischen „Polizeistaat und Permissivstaat“ hindurchlotsen. Aber der Sache nach konfrontiert er die liberale Maxime „Im Zweifel für die Freiheit“ mit der Gegenthese: „Im Zweifel für die Sicherheit“.

Wer im Grundgesetz blättert, wird ein Grundrecht auf Sicherheit nicht finden. Was also soll man sich darunter vorstellen? Ist es aus der Verfassung überhaupt abzuleiten, oder entspringt es politischem Wunschdenken? Und wem könnte es zustehen? Rechtstreuen Bürgern, die gegenüber dem Staat ihr „Grundrecht“ geltend machen, dieser möge gegen die anderen – gegen Kriminelle oder sonst wie verdächtig Erscheinende – endlich hart vorgehen? Oder gar dem Staat selbst, der sich beim Kampf gegen terroristische Umtriebe auf die Blankovollmacht beruft, er habe gegen alles und jeden Sicherheit zu schaffen?

Die Argumentation, mit der Josef Isensee sein „Grundrecht auf Sicherheit“ herleitet, lässt sich so skizzieren: Die Funktion des Verfassungsstaates erschöpft sich nicht in der Garantie bestimmter Freiheitssphären, in denen die Bürger, unbehelligt vom Staat, ihr Leben nach Gutdünken gestalten können. Die andere Funktion des Staates besteht darin, der Freiheit einen stabilen Rahmen zu geben. Innere Sicherheit wird als die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit betrachtet.

Die Ordnungsfunktion des neuzeitlichen Staates sieht Isensee unter Berufung auf den englischen Philosophen Thomas Hobbes, wenn nicht als die eigentliche, so doch als die ursprüngliche Leistung an. Der Staatsdenker des 17. Jahrhunderts war davon überzeugt, dass einzig das Gewaltmonopol des absolutistischen Staates imstande ist, die blutigen religiösen Bürgerkriege seiner Zeit zu befrieden. Nicht umsonst galt Hobbes die Fähigkeit, den „Krieg aller gegen alle“ zu beenden, als der entscheidende Grund für den Gesellschaftsvertrag. Nach der Konsolidierung der Zentralgewalt trat die gleichsam existenzielle Ordnungsfunktion des Staates in den Hintergrund. Dafür kam mit dem Aufstieg des Bürgertums und seinem Interesse an freier wirtschaftlicher und politischer Entfaltung eine andere Frage auf die Tagesordnung: wie die Freiheit des Einzelnen vor Übergriffen des Staates geschützt werden kann.

Diese liberale Sicht bestimmt bis heute unser Problembewusstsein – zu Unrecht, sagt Isensee. Er beruft sich dabei auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Grundrechte eine „objektive Wertordnung“ verkörpern. Der demokratische Verfassungsstaat habe die Grundrechte nicht nur zu achten, sondern müsse sich auch „schützend vor sie stellen“. Josef Isensee geht nun einen entscheidenden Schritt weiter. Er postuliert eine allumfassende „Staatsaufgabe Sicherheit“. Und destilliert aus der „Gesamtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten“, die dem Staat insbesondere im Hinblick auf Leib, Leben und Eigentum obliegen, ein „Grundrecht auf Sicherheit“.

Die Rechtsprechung, die Isensee damit auf die Spitze treibt, ist zum Teil hochproblematisch und vom Verfassungsgericht so nicht fortgeschrieben worden. Das gilt vor allem für das erste Abtreibungsurteil aus dem Jahr 1975. In ihrer Entscheidung über den reformierten Paragrafen 218, der die Abtreibung in den ersten drei Monaten freigab, hatten die Verfassungsrichter aus Artikel 2, Absatz 2 – Grundrecht auf Leben – nicht nur eine generelle Pflicht des Staates abgeleitet, auch das ungeborene Leben zu schützen. Sie hatten den Staat sogar zum Festhalten an Strafnormen verurteilt. Wenn der „Höchstwert“ Leben in Gefahr sei, dürfe der Gesetzgeber nicht vorrangig auf Beratung und Sozialpolitik vertrauen.

Dass es mit der großzügig ausgerufenen Schutzpflicht nicht weit her ist, nicht einmal in Sachen Lebensschutz, offenbarte das Verfassungsgericht schon bald darauf mit der Entscheidung im Entführungsfall Hanns Martin Schleyer: Im Herbst 1977 lehnte es einen Antrag seines Sohnes ab, die Bundesregierung zu verpflichten, den Vater, der in akuter Lebensgefahr schwebte, gegen gefangene RAF-Mitglieder auszutauschen. Wie der Fall ausging, ist bekannt.

Wer Bürgerrechte in nicht kalkulierbare Schutzpflichten umdeutet, stellt das herkömmliche Freiheitsverständnis auf den Kopf. Die Grundrechte sind von ihrer Struktur und ihrer Geschichte her Rechte des Einzelnen gegen den Staat. Sie sind in erster Linie Abwehrrechte gegen Übergriffe der öffentlichen Gewalt. Ganz in diesem Sinne entschied der Supreme Court der USA, dass ein generelles Abtreibungsverbot das Selbstbestimmungsrecht der Frau verletze. Derselbe Konflikt sieht völlig anders aus, betrachtet man ihn aus der Perspektive einer vom Bundesverfassungsgericht überspannten Schutzpflicht: Der Staat tritt als Sachwalter des Ungeborenen auf, um gegen die Schwangere den Einsatz von Strafparagrafen zu rechtfertigen.

Sieht man die Grundrechte aus der buchstäblich verkehrten Perspektive des Staates, so begrenzen sie nicht dessen Handlungsmöglichkeiten, sondern erweitern sie – mit grundstürzenden Folgen für die Freiheit des Einzelnen. Stellt also das von Isensee kreierte Grundrecht eine Art Leistungsrecht auf Sicherheit dar, das zu Lasten Dritter die klassische Grundrechtsfunktion ablösen soll? Nein, es soll nur eine „vergessene Seite“ ergänzen, sagt der Verfassungsjurist – ohne zu bemerken, dass seine Lesart die Grundrechte nicht stärkt, sondern quasi verstaatlicht.

Abgesehen von diesen grundsätzlichen Einwänden: Was folgt aus einer Neuschöpfung, die begrifflich einen individuellen Anspruch auf mehr Sicherheit suggeriert? Praktisch nichts. Denn das „Grundrecht auf Sicherheit“ ist keines, es fungiert lediglich als Chiffre für das Bedürfnis nach innerer Sicherheit. Das „Grundrecht“, das Isensee übrigens selbst nicht ganz wörtlich verstanden wissen will, erschöpft sich in dem unverbindlichen Programmsatz, der Staat möge ein Mindestmaß an Sicherheit garantieren.

Das „Grundrecht auf Sicherheit“ gibt niemandem das subjektive Recht, eine als zu lax oder untätig empfundene Regierung zu verklagen. Denn es gilt nur im Rahmen der Gesetze. „Es ist ausgeschlossen“, stellt Isensee fest, „dass jedermann in jeder Gefahrenlage unmittelbar aus den grundrechtlichen Schutzpflichten den Anspruch auf eine bestimmte Schutzmaßnahme ableiten und einklagen kann.“

In diesem Sinne wird das „Grundrecht auf Sicherheit“ juristisch vielfach relativiert und dann in kleiner Münze ausgezahlt: zum Beispiel als Bürgeranspruch auf ermessensfehlerfreie Anwendung der Polizeigesetze. Das freilich ist ein Lehrsatz, der lange vor Isensees Erfindung entwickelt wurde. Mit anderen Worten: Sein „Grundrecht auf Sicherheit“ läuft leer. Es bietet, nüchtern betrachtet, keinerlei Sicherheitsgewinn. Es liefert allenfalls eine wohl klingende Phrase für jene Ordnungsrhetorik, in die Innenminister verfallen, sobald Außergewöhnliches passiert. Verfassungsrechtlich gesehen ist die organisierte Ungewissheit, die man gemeinhin „Sicherheit“ nennt, ein Staatszweck neben anderen, aber kein Grundrecht.

Von der hohen Warte der Staatstheorie gerät alles leicht zum Glaubensbekenntnis: im Zweifel für die Freiheit oder lieber doch für die Sicherheit. Die Sonntagsredner haben es gut. Im Gehäuse der Bürokratie dagegen, wo die Sachzwänge verwaltet werden, herrscht grauer Alltag. Nehmen wir zum Beispiel den Betrieb von Atomanlagen. Umweltschutzverbände haben nach dem Massenmord vom 11. September beantragt, die Betriebsgenehmigung für all jene Atomkraftwerke zu widerrufen, deren Reaktorkuppel nicht den Berstschutz aufweist, der erforderlich ist, um dem Einschlag eines voll betankten Passagierflugzeugs standhalten zu können. Die Horrorszenarien aus guter alter Zeit beschrieben den „größten anzunehmenden Unfall“ als Absturz einer Militärmaschine.

Jetzt streiten die Gutachter über denkbare Einflugwinkel und Aufprallenergien von Großraumflugzeugen. Sie versuchen zu berechnen, welche Auswirkungen heftige Kerosinbrände auf Stahl und Beton haben. Schon treten juristische Sachverständige auf den Plan, die behaupten, das neueste Horrorszenario gehöre gar nicht zur Normallage, sondern sei ein Fall von Kriegseinwirkungen. Gegen solche aber brauchten die Betreiber – so das Atomgesetz – keine Vorkehrungen zu treffen. Dies sei allein Sache des Staates, der Polizei oder notfalls Militär aufbieten müsse.

Bereits 1982 beschied Josef Isensee die „Anlieger von Kernkraftwerken“ mit einer lapidaren Feststellung des Verfassungsgerichts: Dem Staat „obliegt die Risikovorsorge nur nach den Abschätzungen der praktischen Vernunft, die dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik Rechnung trägt … Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle … sind unentrinnbar und insofern als sozial-adäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen“. Nein, auch der Erfinder des Grundrechts auf Sicherheit mag es nicht ausschließen, das „erlaubte technische Restrisiko“.

P. S.: Mein Transistorradio, das ich neulich arglos erwarb, weil der Hersteller ein handliches Gerät versprach, das überall leicht zu betreiben ist, dieses Transistorradio funktioniert tadellos. Es will mir trotzdem keine rechte Freude machen. Auf der soliden Pappschachtel, die den blauen Apparat als Exportartikel für Entwicklungsländer ausweist, wird versichert, das Modell sei als „Unfall- und Katastrophenradio“ praktisch immer einsatzbereit: dank Solarzelle und Dynamo. Also nehme ich mein Transistorgerät in die Hand, klappe die Kurbel auf und drehe. Seltsam. Das leiernde helle Surren beruhigt irgendwie. Drei Minuten an der Kurbel ergeben ungefähr fünfzehn Minuten Empfang. Das dürfte fürs Erste genügen.

HORST MEIER, 48, Jurist, lebt in Hamburg. Voriges Jahr war er Mitherausgeber des Buches „Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?“ (Suhrkamp). Seinen (hier stark gekürzten) Text entnahmen wir der aktuellen Ausgabe des Merkur