: Trost für Charlotte
Denn Aussonderung ist historisch gegesehen ein Auslaufmodell. Leiterin des Jugendpsychiatrischen Dienstes ging in Ruhestand. 300 Kollegen und Freunde kamen zum Abschieds-Symposium
von KAIJA KUTTER
„Wir sind hier, um dich zu trösten. Zeichen der Verbitterung stehen dir nicht“, sagte Professor Klaus Dörner gestern im Hamburg-Haus. Die Getröstete heißt Charlotte Köttgen und leitete bis gestern fast 20 Jahre den „Jugendpsychiatrischen Dienst“.
Unter dem Titel „Gute Ansichten, schlechte Aussichten“ hatte die „Hamburgische Gesellschaft für soziale Psychiatrie“ der streitbaren Ärztin zu Ehren zum Symposium geladen. Und es geschah, was vor zwei Monaten bei der Verabschiebung von Heim-Kritiker Klaus Schmidt passierte. Die Jugendhilfeszene erschien fast komplett. Sogar Jugendamts-Chef Uwe Riez sprach Worte. Auch wenn sie es denke, er sei nicht froh, sie zu verlieren.
Köttgen hatte im August 2002 von ihrem Streikrecht als Beamtin gebraucht gemacht und „remonstriert“. Ihr Job war es, die Jugendhilfe zu beraten. Seit 1984 hatte sie dies über mehrere Senatswechsel hinweg getan. Erst bei den geschlossenen Heimem verweigerte sie sich. Symbolisch, ihre Mitarbeit gar nicht gefragt.
Wie schon bei der Schmidt-Verabschiedung erinnerten auch diesmal die frühere Jugendamtsleiterin Dorothee Bittscheidt und Staatssekretärin Wilma Simon an die Auflösung der Heime zu Beginn der 80er. Damals befürchteten Kritiker, die Heimkinder würden Gefängnisse und Psychiatrie füllen. Die Jugendbehörde engagierte mit Köttgen eine Ärztin, die selbst fünf Jahre in der Jugendpsychiatrie tätig war. „Wir glaubten, die Psychiatrie werde anhaltenden Widerstand leisten“, erinnert Simon. „Charlotte Köttgen hat uns gegen die Facharroganz abgesichert“.
Und den Unkenrufen zum Trotz geschah ein Wunder. Mit dem Abbau der Heime sank bis 1989 die Zahl der Jugendlichen in U-Haft und Psychiatrie. „Die wirksamste Hilfe gab es in der Zeit, als der Integrationsansatz von allen vertreten worden ist“, erinnert Köttgen, „als es wenig Spezialeinheiten und viel Hilfe dort gab, wo die Kinder leben.“
In ihrem Aufsatz „Wegsperren hilft nicht“ erinnert sie an die 80er, wo es in den Heimen ein „familienähnliches Zusammenleben mit Profis für Kleinkinder“ gab und einen „weitgehenden Verzicht auf Abschiebung“ von Kindern aus Hamburg heraus. In den 90er Jahren änderte sich dies. In der Jugendhilfe wurden Marktprinzipien eingeführt. Köttgen spricht von der „Ausgrenzung der Schwächsten“, weil vor allem Profit und Erhalt der Institutionen wichtig werden.
Was Köttgen jedoch an der öffentlichen Debatte stört: über das, was die Jugendhilfe leistet, spricht keiner. Hamburg habe 3000 bis 4000 Jugendliche in „extrem schwieriger Position“, die aus ihren Familien rausfallen. Davon werde ein kleiner Teil an die Öffentlichkeit gespült, wenn sie etwas Spektakuläres machen. Köttgen: „Und jedes Mal wird die Jugendhilfe in toto diffamiert.“ Gute Erfahrungen hat die Ärztin immer gemacht, „wenn es gelingt, Kinder in ein Umfeld zu integrieren. Oft hat man von schwierigen Fällen dann nie wieder etwas gehört.“ Aussonderung dagegen, wie sie auch die Schule betreibe, verletze ein Kind. Köttgen erinnert den Fall eines hochbegabten Jungen, der in der Schule randalierte. „Ich habe dem Kollegium aufgetragen, sie mögen eine positive Eigenschaft finden, die diese Kind hat.“ Am Schuljahresende hatte der Junge gute Noten.
Und der Trost? „Nur das 19. Jahrhundert hat störende Menschen in Institutionen ausgesondert“, sagte Professor Dörner, der in den 70er Jahren mit revolutionärem Konzept psychiatrischen Langzeitpatienten das Leben in Wohnungen ermöglichte. Die einzige Alternative zur Aussonderung sei die im 20. Jahrhundert begonnene „Desinstitutionaliserung“. Dörner: „Dieser Weg wird sich durchsetzen. Da sollten wir über kleine Rückschläge nicht verzweifeln.“