: Abschied im Winter
Schlechte Zeiten für Schwäne. Mit „Swan Lake“ und „Writings on Water“ nimmt der „Tanzwinter“ am Hebbel-Theater die Geschichte des Tanzes in den Blick
Das Ballett ist nur noch eine ferne Erinnerung in „Swan Lake“ vom Krahl Theater aus Estland. Fern wie die Kindheit, als die Jungen und Mädchen auf der Bühne fleißig ihre Relevés und Piqués übten; fern wie ein Stummfilm in Schwarzweiß, der heute immer mit falscher Geschwindigkeit abgespielt wird. „Schwanensee“ ist bloß noch ein Traum, projiziert in flackernden Bildern auf die Bettlaken der Schlafenden. Manchmal lösen Sport treibende Arbeiter die schneeweißen Reihen im Hintergrund ab, und man sieht einen Bagger graben. Wo einst der Waldsee lag, an dem sich der Prinz und die Schwanenprinzessin trafen, wird jetzt an einem Stausee gearbeitet. Schlechte Zeiten für Schwäne also.
Mit der Einladung des Krahl Theaters setzt der „Tanzwinter 2003“ die Tradition des Hebbel-Theaters fort, nach Osteuropa zu blicken. 1991, auf dem Höhepunkt des Putsches gegen Gorbatschow, strahlte ein russischer Fernsehsender ununterbrochen das Ballett „Schwanensee“ aus, das seit seiner Uraufführung 1877 zum Inbegriff einer unerfüllbaren Sehnsucht nach Schönheit geworden ist. Das Krahl Theater spürt in seiner Version diesem Gebrauch der Metaphern von der Reinheit nach. Über die Chiffren der Romantik legen sie spätere Träume russischer Künstler, für die in der Zeit der Revolution die Suche nach dem Absoluten und einem Neuanfang jenseits aller Geschichte entscheidend war. So vermischt sich die ästhetische Sprache der Revolution mit ihrem himmelstürmenden Pathos mit der symmetrischen Schrift der alten Choreografien. Geschehen kann dies aber erst auf einer dritten Zeitebene, der Gegenwart.
Das Ensemble spielt und tanzt mit vielen ironischen Brechungen. Statt zarter Schleier markieren rollende Fässer das Auf und Ab elementarer Gewalten. Der Komponist Sergei Zagni hat die Musik Tschaikowskys bearbeitet: Die Motive sind erkennbar geblieben, der Sound aber markiert ihre Geschichte der Abnutzung. Das Poltern der Fässer, das Klappern von Eimern und ein Wetzen von Messern und Gabeln setzen der Musik zu. Ein wenig wird „Schwanensee“ auch geschlachtet, und die Eimer werden voll Tränen geweint.
Im September 2003 wird die Intendantin Nele Hertling das Hebbel-Theater an ihren Nachfolger Matthias Lilienthal übergeben. Ihr letzter „Tanzwinter“ ist ein Abschied, zu dem viele Choreografen wiederkommen, die mit ihren Handschriften und Themen das Gastspielprogramm seit 1989 geprägt haben. Die Produktionen von Dominique Mercy und Joseph Nadj aus Orléans (11./12. Februar), die Choreografien von Dominique Bagouet (18./19. Februar) und die Soli der beiden großen Damen des deutschen Tanztheaters Reinhild Hoffmann und Susanne Linke (15./16. Februar) aber blicken nicht bloß zurück, sondern fragen auch nach dem Altern des Tanzes und der Veränderung seiner Bedeutung.
Carolyn Carlson, lange an der Pariser Oper zu Hause, wurde 1943 geboren. Ihr Solo „Writings on Water“ ist eine Umschreibung des Unfassbaren: ein Leben, wie in Wasser hineingeschrieben. Es beginnt mit Filmbildern von Wellen und vom Fließen; eine Bewegung, die sich immer wieder neu hervorbringt und nie stillsteht. Dann kommt Carlson, den hohen Körper in Bahnen von Stoff gewickelt, die ihre Linien weit verlängern. Ihre Bewegungen zeichnen scharf in die Luft, stechen mit einer Präzision zu, die unerbittlich und streng scheint. Ihre Hände sind ungeheuer entschieden, fahren dem Körper voraus, ziehen ihn nach, und sind in ihrer Wendigkeit dreifach so schnell wie die Wellen, die sie im ganzen Körper auslösen.
Was man eigentlich sieht, weiß man bei diesem Solo nicht so genau: In seiner Expressivität und dem Pathos mancher Gesten wirkt es weit weg von gegenwärtigen Konzepten. Aber es packt in seiner Ernsthaftigkeit. Hier wird dem Gestaltlosen, dem Atem des Lebens, unentwegt eine Form abgerungen und entgegengestellt, die das Moment ihrer eigenen Auflösung schon wieder in sich trägt. Was Zeit bedeutet, was Gegenwart oder Vergangenheit meint, relativiert sich vor dieser Bewegung.
KATRIN BETTINA MÜLLER