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Archiv-Artikel

Standortfaktor Alter

Das Arbeitskräfteangebot sinkt in den kommenden Jahren enorm. Trotzdem nehmen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu – Regierung und Wirtschaft sparen am falschen Ende

Hierzulande wirdin 30 Jahrendie ältesteBevölkerung derWelt leben

Vollbeschäftigung in zehn Jahren? Viele Arbeitslose fühlten sich verhöhnt, als Arbeitsminister Clement vor kurzem über solche Perspektiven schwadronierte. Doch von einer Seite bekommt Clement tatsächlich starken Rückenwind: Das Arbeitskräfteangebot wird in den kommenden Jahren massiv sinken.

Schon jetzt verschwinden jährlich 150.000 bis 200.000 Menschen mehr vom Arbeitsmarkt, als hinzukommen. Ab 2010 geht es dann rapide abwärts. Sobald die Babyboomer in Rente gehen, wird es hierzulande nur noch 30 Millionen Erwerbsfähige geben – vorausgesetzt, an den Ausbildungszeiten und dem Renteneintrittsalter ändert sich nichts. Gegenwärtig sind es knapp 41 Millionen.

Meinhard Miegel, Professor am Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, hält es durchaus für möglich, dass die Arbeitslosigkeit in einigen Jahren selbst in Ostdeutschland abschmilzt, und verweist auf eine historische Parallele. Suchten in den Fünfzigerjahren noch über 10 Prozent der Erwerbsfähigen vergeblich eine Anstellung, so blieben gut zehn Jahre später eine ganze Reihe von Jobs mangels Personal unbesetzt – und das, obwohl 2,5 Millionen „Gastarbeiter“ an den Werkbänken mitschufteten. Nicht so sehr der damalige Wirtschaftsboom, sondern vor allem demografische Gründe führten für Miegel zu dieser Entwicklung. Zum einen sank kriegs- und nachkriegszeitbedingt die Zahl der Erwerbsfähigen um fast 7 Prozent. In unsicheren Zeiten und wegen der Abwesenheit vieler Männer waren in den Vierzigerjahren weniger Kinder geboren worden, sodass nun, knapp 20 Jahre später, auch weniger junge Leute auf den Arbeitsmarkt strömten. Hinzu kam: Die Jugendlichen gingen länger zur Schule, die Alten früher in Rente, und viele Frauen blieben zu Hause, um Kinder aufzuziehen. Übrig blieben sozusagen die Vollzeitmänner, die dank ihrer Begehrtheit nicht nur satte Lohnsteigerungen, sondern auch Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen konnten – was das Problem aus Arbeitgebersicht weiter verschärfte.

Kann Clement also hoffen, seinen Job noch zehn Jahre lang machen zu dürfen, um dann als Besieger der Arbeitslosigkeit dazustehen? Kaum. Eher sollte ihm an seiner baldigen Entlassung gelegen sein. Denn einige seiner kurzfristigen Arbeitsmarktinstrumente kollidieren mit den langfristigen Erfordernissen und könnten das Arbeitsmarktproblem weiter verschärfen.

Clements gegenwärtige Strategie besteht darin, das Geld für Weiterbildung deutlich zu reduzieren und Langzeitarbeitslose so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Egal, wie und wo. Bei dieser Klientel handelt es sich, neben Älteren, vor allem um Personen mit geringen Qualifikationen. Ohne Zweifel ist in diesem Bereich in den vergangenen Jahren extrem viel schief gelaufen, und Reformen sind unausweichlich. Doch klar ist auch: Die Förderung von Hilfsjobs ist auf längere Sicht falsch. Zum einen hat der Bedarf nach solchen Arbeitskräften seit Mitte der Achtzigerjahre kontinuierlich abgenommen. Konnten damals noch 25 Prozent der Jobs ohne Berufsabschluss bewältigt werden, so werden es im Jahr 2010 gerade einmal 16 Prozent sein. Das hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) errechnet.

Anders gesagt: Der Bedarf nach qualifiziertem Personal steigt. Doch genau daran wird es in Deutschland zunehmend mangeln – nicht nur, weil aus demografischen Gründen die Gesamtzahl der Arbeitskräfte abnimmt. Noch wichtiger ist der durchschnittliche Qualifizierungsgrad der jungen Generation. Im Vergleich zum Pisa-Siegerland Finnland besuchen hierzulande nur etwa halb so viele Frauen und Männer eines Jahrgangs eine Hochschule. Zwei Millionen junge Menschen zwischen 15 und 24 haben sich bereits ohne Berufsabschluss aus dem Bildungssystem verabschiedet. Clements jüngster Vorschlag zielt zwar darauf ab, sie mit Ausbildungs- und Arbeitspflicht aus der Sozialhilfe zu holen; notfalls sollen die Kommunen diese Aufgabe übernehmen. Doch im Arbeitsministerium räumt man ein, dass es bisher weder Geld gibt noch eine Vorstellung, wie Qualität und nicht nur Beschäftigungstherapie erreicht werden kann.

Mit Abstand die am besten ausgebildete Altersgruppe in Deutschland sind laut IAB die 35- bis 49-Jährigen. Wenn diese Generation ab etwa 2020 in Rente geht, folgen kleinere und nach bisherigem Stand schlechter ausgebildete Generationen. Aus langfristiger Perspektive dürfte das zentrale Anliegen der heutigen Arbeitsmarktpolitik also nicht darin bestehen, neue Jobs für gering Qualifizierte zu suchen, sondern gering Qualifizierte möglichst so weiterzubilden, dass sie anspruchsvollere Tätigkeiten übernehmen könnten. Ansonsten wird sich für viele Unternehmen wohl die Frage stellen, warum sie nicht auch ihre Zentralen ins Ausland verlegen sollten. Das Kriterium für die Standortsuche wird dann nicht mehr ein möglichst niedriges Lohnniveau sein, sondern junge und gut ausgebildete Arbeitskräfte.

Zunächst aber wird die Wirtschaft versuchen, das Problem durch gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu lösen. Selbst wenn es gelingt, jährlich einige hunderttausend Einwanderer anzulocken, würde das nichts daran ändern, dass hierzulande in 30 Jahren die durchschnittlich älteste Bevölkerung der Welt lebt. Nicht durchhalten lässt sich der heutige Trend, niemanden mehr einzustellen, der seinen 40. Geburtstag schon hinter sich hat, und betriebliche Fortbildungen ausschließlich Jüngeren zu gewähren. Denn schon in wenigen Jahren wird fast ein Drittel der Arbeitskräfte zur Gruppe „50 Jahre und älter“ zählen – und das wird auf Dauer so bleiben.

Der Bedarf anqualifiziertemPersonal steigt.Doch genau daran wird es künftig fehlen

Während anderswo längst darüber diskutiert wird, mit welchen Weiterbildungsmaßnahmen eine alternde Gesellschaft innovationsfähig bleibt, spielen derlei Fragen in Deutschland noch kaum eine Rolle.

Dass viele Arbeitgeber das Altern der Gesellschaft schlicht übersehen haben, liegt vor allem daran, dass es bis vor kurzem leicht war, die über 55-Jährigen auf Kosten der Allgemeinheit in Rente zu schicken. So konnte das Durchschnittsalter in den Betrieben gehalten werden. Doch weil dort auch der Anteil der weniger als 30 Jahre alten Beschäftigten geschrumpft ist, konzentriert sich die Belegschaft nun auf die mittleren Jahrgänge. Und die werden gemeinsam immer älter.

Das wird sich in einigen Branchen schon in den kommenden Jahren dramatisch bemerkbar machen. Weil beispielsweise Dachdecker unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen nur durchschnittlich 20 bis 30 Jahre lang durchhalten, wird es hier bald einen akuten Arbeitskräftemangel geben. Denn welcher junge Mensch wird sich in ein paar Jahren freiwillig für einen körperlich so auslaugenden Beruf entscheiden, wenn er dann absehbar umworben sein wird? Sollte es ebenfalls misslingen, ausländische Jugendliche für derartige Aussichten ins Altenheim Deutschland zu locken, wird es wohl demnächst durch deutsche Dächer durchregnen.