: Mann im Mosaik
von ASTRID GEISLER
Der Bundesanwalt starrt hinüber zur anderen Seite des Gerichtssaals, als zweifle er seit wenigen Augenblicken an seinem Verstand. Dort ruft ein junger Mann nach der Wahrheit. Es ist der Angeklagte. Ungefragt hat er sein Tischmikrofon angestellt. „Warum sperrt man Zeugen, die die Wahrheit kennen, und gleichzeitig sagt man, ich sei derjenige, der nicht die Wahrheit sagt?“, fragt er. „Das ist unfair!“ Er lehnt sich nach vorn, schaut zu den sieben Richtern auf dem Podium: „Wir sind doch alle hier, weil wir die Wahrheit wissen wollen.“
Wahrheit – wie ein Zeichen drohenden Unheils hat der Angeklagte dieses Wort wiederholt, mehr als fünfmal in wenigen Sätzen. Seit über drei Monaten sucht der 3. Strafsenat nichts als die „Wahrheit“ über ihn, Mounir al- Motassadeq, der Schuld tragen soll an den Anschlägen vom 11. September. Vielleicht war die Ratlosigkeit nie größer im Saal 237 des Hanseatischen Oberlandesgerichts als jetzt, kurz vor dem Urteil. Der Angeklagte verlangt nach zwei Zeugen, die ihn entlasten sollen: Ramsi Binalshibh und Mohammed Haydar Zammar. Sie waren seine Bekannten, sie sitzen im Ausland in Haft. Die Richter aber sollen urteilen ohne die „Wahrheit“ dieser Zeugen, weil Geheimdienste dies fordern. Nur drei Herren im Saal kennen die gesperrten Dossiers über die Geheimverhöre – die Ankläger. Ungläubig folgen sie dem Wahrheitslamento des Angeklagten. Sie sind sicher: Mounir al-Motassadeq lügt.
Bald soll er ein Präzedenzfall sein, der hagere, kleine Mann mit den hängenden Schultern und den dunkelgrauen Augenringen. Zum Zeitpunkt, da al-Motassadeq sein Tischmikrofon anschaltet, haben die Ankläger ihr Plädoyer schon formuliert: Die Höchststrafe, 15 Jahre Haft, fordern sie für Mounir al-Motassadeq, weil er ein Komplize Mohammed Attas gewesen sei und Schuld trage am Tod von 3.045 Menschen.
Ein „Mosaik aus vielen kleinen Steinen“ nennt Bundesanwalt Walter Hemberger seine Bilanz. Jeder dieser Steine sei ein kleines Beweisstück, und das Gesamtbild zeige: Mounir al-Motassadeq wurde als Elektrotechnik-Student in Hamburg-Harburg nicht nur in die Geheimnisse von Stromkreisen eingeweiht, sondern auch in die eines Terrorzirkels. Er habe Attas „wahnhaftes“ Weltbild geteilt, die grausamen Pläne der Freunde gekannt und sie willig unterstützt. Er sei ihr treuer „Statthalter“ gewesen. War er?
Auch nach fast 30 Prozesstagen wirkt vieles an dem bärtigen jungen Mann widersprüchlich, zweideutig wie sein verspanntes Grinsen. Oft sitzt er auf der Anklagebank mit diesem grimassenhaften Gesichtsausdruck, den auch das einzige Pressefoto vor seiner Festnahme festgehalten hat: Lacht dieser Mann, vielleicht sogar abschätzig über das Gericht? Oder zieht er bloß unbewusst die Mundwinkel hoch?
Wenige Sätze über ihn mag man aufschreiben ohne Wörter des Zweifels, Wörter wie „vielleicht“, „womöglich“, „angeblich“. Dürr ist der offizielle Lebenslauf des Mounir al-Motassadeq. Er stammt aus Marrakesch, hat fünf Geschwister, kam vor neun Jahren zum Studium nach Deutschland. Inzwischen ist er 28, verheiratet, Vater zweier kleiner Kinder. Seine Frau Maria stamme aus St. Petersburg, hat er dem Gericht erzählt, sie sei promovierte Schiffsbauingenieurin und zum Islam konvertiert.
Motassadeq hat den Richtern schnell bewiesen, dass sie über einen intelligenten, stolzen Mann urteilen müssen. Er gab ihnen Nachhilfestunden über Dschihad und Märtyrertum, ließ sie auflaufen. „Verstanden?“ „Klar?“ Ob er ein gutes Gedächtnis habe, fragte ein Bundesanwalt. „Prüfen Sie es, fragen Sie einfach!“ Ob er wirklich keine Videos mit Predigten von Ussama Bin Laden angeschaut habe? „Ich habe nur Kassetten von Gelehrten gehört. Bin Laden ist kein Gelehrter, damit Sie das wissen!“ Unerschrocken ist der Angeklagte oft aufgetreten. Manchmal mochte man glauben, er habe am wenigsten zu befürchten von allen Beteiligten im Saal.
Schon am ersten Prozesstag hat Mounir al-Motassadeq einiges zugegeben vor den Richtern – alles, was ohnehin bewiesen war: Er bekannte, dass er in ein Al-Qaida-Trainingscamp nach Afghanistan gereist ist, dass er die Hamburger Terroristen zu seinem Freundeskreis zählte, dass er Attas Testament unterschrieb, dass viele der „Brüder“ bei ihm ein und aus gingen wie er bei ihnen. Er gab zu, dass er eine Generalvollmacht besaß für die Geschäfte des Todespiloten Marwan al-Shehhi, einmal 5.000 Mark für ihn überwies, Studentenausweise verlängerte, sich um Marwans Wohnung kümmerte. Als Geständnis aber waren diese Bekenntnisse nicht gedacht – auch wenn sie ins „Mosaik“ der Ankläger passen. Mounir al-Motassadeq setzt die „kleinen Steine“ anders zusammen als seine Ankläger, er zeichnet ein Bild, das harmlos aussieht. Dies sei „die Wahrheit“, sagt er.
Gläubiger Muslem und gutgläubiger Kumpel will Mounir al-Motassadeq gewesen sein. Mehr nicht. Einer, der zu spät kapierte, dass er in seiner Studentenbude die Falschen bewirtet und in der Moschee mit den Falschen gebetet hatte. Einer, den alle ausnutzten, der aber nie eingeweiht wurde und immer just dann nicht im Zimmer war, wenn im Kreise der Attentäter doch mal ein böses Wort über Amerika oder ein gewisses „Weltjudentum“ gefallen sein muss.
Oft hat der Vorsitzende Richter Albrecht Mentz versucht, diese „Wahrheit“ zu enttarnen. Warum der Angeklagte als friedliebender Muslem überhaupt in ein afghanisches Militärcamp gereist sei? „Im Islam ist es erwünscht, dass man das Schießen, das Reiten und das Schwimmen lernt“, sagte al-Motassadeq einfach. „Das steht so in der Überlieferung.“ Ob Kandahar wirklich der nächstbeste Ort sei, um schießen zu lernen? „Ich wollte die Möglichkeit nutzen.“ Wer hinter dem Militärcamp gestanden habe? „Die Araber, die da sind.“ Vielleicht auch Bin Laden? „Das hat mich nicht interessiert.“
Überzeugt wirkte Richter Mentz nicht nach solchen Wortwechseln. Der Angeklagte lehnte sich zurück, als wäre nichts gewesen. Er war sicher: Keiner der fast 30 Zeugen würde noch sagen, worauf die Ankläger warteten: dass „der Mounir“ wegen der Anschläge nach Afghanistan fuhr, dass „der Mounir“ Attas Pläne kannte.
Die Verteidiger haben das Gericht immer wieder erinnert, wie wenige Beweise vorliegen gegen ihren Mandanten. Sie haben sogar gefordert, den Angeklagten noch vor dem Urteil aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Die Stimmung aber wirkte kühl zwischen al-Motassadeq und seinen Anwälten. Fehlten da nicht Gesten der Verteidiger, Zeichen der Sympathie für ihren seit 14 Monaten angeblich schuldlos inhaftierten Mandanten? Für die Besucher hinter der milchigen, kugelsicheren Plexiglaswand im Zuschauerraum spielten sich viele Szenen als Stummfilm ab: Da versuchte Verteidiger Hans Leistritz einen stur gestikulierenden al-Motassadeq zu überzeugen. Da redete der Angeklagte in den Minuten vor Verhandlungsbeginn gut gelaunt auf Anwalt Hartmut Jacobi ein, der aber starrte nur in seine Akten.
Und als Hinterbliebene aus den USA dem Gericht unter Tränen von ihrem Leid seit dem 11. September berichteten, saß Verteidiger Jacobi bekümmert da, den Kopf schwer auf die Hände gestützt, raufte sich die Haare. Sein Mandant aber rührte sich nicht. Zurückgelehnt, mit glatter Miene schaute Mounir al-Motassadeq den Müttern, Vätern, Witwen und Witwern zu. Vielleicht haben die Richter an diesem Tag auf ein Wort des Angeklagten gewartet, so wie viele Besucher im Zuschauerraum. „Es tut mir Leid für Sie“, hätte al-Motassadeq sagen können, selbst wenn es nur berechnend gewesen wäre. Er schwieg.
Erst jetzt, Tage später, hat der Angeklagte sein Mikrofon wieder angestellt, um die „Wahrheit“ einzufordern. Ein anderer Richter hätte vielleicht die Fassung verloren an diesem Vormittag, aus Wut, dass dieser Mounir al-Motassadeq sich als Opfer präsentierte, Opfer der Geheimdienstpolitik, und das Gericht entscheiden sollte ohne das gesperrte Material. Albrecht Mentz blieb ruhig. „Ich kann Ihre Empörung durchaus nachvollziehen“, sagte er, und es klang väterlich. Dann aber hat er die letzten Beweisanträge der Verteidigung zurückgewiesen und auf ein Urteil gedrängt.