Perfekte Unsicherheitsgeneratoren

Was hat uns der Wähler sagen wollen? Keine einfache Frage, denn sein Wille kann sich in Wahlen nur durch ein paar Ankreuzungen artikulieren. Systemtheoretische Anmerkungen zur gegenwärtigen Trivialisierung der politischen Rhetorik

von PETER FUCHS

Wahlen liegen hinter uns. Nun geht es um die Deutung des Wählerwillens. Der Souverän drückt sich nämlich nicht sehr deutlich aus. Niemand kann schließlich auf den Wahlschein schreiben, was er wirklich will. Der Wille derer, die pflichtschuldigst gewählt haben, und der unausgesprochene Wille der unlustigen Nichtwähler müssen deswegen interpretiert werden – von den Siegern und den Nichtsiegern und von den Massenmedien, die die Interpretationen bekannt machen und ihnen selbst weitere Kommentare zur Seite stellen, auf die die Politik mit weiteren Kommentaren reagiert. Hinter dem Wust der Kommentare verschwinden dann klare Vorstellungen darüber, welche Funktion Wahlen haben und weswegen Interpretationen des Wählerwillens wichtig sind, auch wenn sie so offenkundig vom Interpreten abhängen, dass man von vornherein wissen kann, was Frau Merkel, Herr Schröder, Herr Westerwelle sagen werden, wenn die Wahl gelaufen ist.

Worum geht es also bei Wahlen? Zunächst und ersichtlich nicht um eine volonté générale. In der Wahl herrscht das Wahlvolk nicht über sich selbst. Es bedient ein Klavier mit wenigen Tasten. Entsprechend dürftig ist dann das Repertoire möglicherweise erklingender Melodien.

Allerdings wird nicht nur einmal gewählt, sondern immer wieder. Dadurch kommt Zeit ins Spiel, und das verweist darauf, dass die Demokratie in dem uns bekannten Verständnis strukturell weniger gekennzeichnet ist durch die immer wieder erneute Anfrage an das Volk, wie es über sich selbst zu herrschen gedenke, sondern dadurch, dass die Wahlen die Möglichkeit offen halten, dass Regierung und Opposition hin und wieder als austauschbar erscheinen. In der Sprache der Systemtheorie: Die Wahlen beziehen sich auf die Zweitcodierung politischer Macht durch das Schema Regierung/Opposition. Das Spiel der politischen Macht wird durch freie und geheime Wahlen unterbrochen – durch die Möglichkeit eines Strukturbruches, durch den die Inhaber der Macht unentwegt mit der unbekannten Zukunft dieses Innehabens konfrontiert werden. Politische Wahlen sind, weil sie immer wieder stattfinden, perfekte Unsicherheitsgeneratoren, und es geht dabei nicht um die Unsicherheiten, die der Politik aus einer turbulenten Umwelt heraus laufend zur Bearbeitung angesonnen werden (Arbeitslosigkeit, Umweltprobleme, Terrorismus etc.), sondern vielmehr um systeminterne, im Politiksystem erzeugte Unsicherheit. Sie führt dazu, dass jede Entscheidung, die in ihm getroffen wird, zugleich eine riskante Entscheidung darüber ist, ob sie die Unsicherheit im Blick auf nächste Wahlen vermindert oder vermehrt. Politiker können nicht über Entscheidungen reden, ohne die wahlbedingte Möglichkeit des Austausches von Regierung und Opposition einzukalkulieren.

Das ist (wiederum in der Systemtheorie) ein Ausdruck für hohe Selbstreferenz: Politik irritiert sich selbst durch systematisch eingeführte Unsicherheit über ihre Zukunft. Sie reagiert, würde das heißen, auf Eigenprobleme und immer weniger auf Sachprobleme. Oder anders: Sie definiert Sachprobleme um in Wahlchancenprobleme. Die Politik, gesehen im Schema Regierung/Opposition, muss deswegen das Wahlvolk überzeugen, dass die Ziele, die sie proklamiert, richtige und gute Ziele sind. Ebendarum setzt sie auf Moral, auf einschlägige Aufgeregtheiten, auf katastrophische Szenarien, kurz: auf eine Rhetorik, die auch dann funktioniert, wenn sie durchschaut wird. Die Intelligenz, die, um einen Ausdruck Dirk Baeckers aufzugreifen, im System zirkuliert, wird, wenn man so will, abgesaugt in die Rhetorik. Nur den Rest frisst der politische Alltag hinter den Kulissen.

Politische Wahlen ermöglichen demnach Fluktuationen im System, indem sie die Zukunft desselben Systems, repräsentiert durch Regierung und Opposition, offen halten. Die Differenz des Wählbaren, der Programme, der Personen entsteht dann über unterschiedliche Mutmaßungen über Wahlchancen und kann nicht sehr weit variieren, weil alle Parteien sich denselben Wahlen stellen müssen und demselben Publikum. Der Anspruch an das, was Politiker noch als Ziel setzen können, wird – so die Prognose – sinken. Stattdessen wird Trivialisierung (Unterkomplexität im Blick auf Sachprobleme) zunehmen, insofern in jeder Gegenwart der Wählerwille berücksichtigt werden muss, den die Politiker und Massenmedien interpretieren und kommentieren, obwohl er nur durch eine geringe Auswahl von Ankreuzungen artikuliert werden kann.

Das Problem ist das durch Wahlen ermöglichte hohe Maß an Selbstreferenz der Politik. Sie wird, wie man auch nach den letzten Wahlen gesehen hat, zum Narziss, der sich im Spiegel der Wahlen lärmend betrachtet. Man weiß nicht, was die Evolution daraus macht. Zu erwarten wäre, dass Selbstreferenzunterbrecher auf den Plan treten, die das Spiel massiv stören: nichtrhetorische Krisen, nicht im Schema Regierung/Opposition zu bewältigende Probleme. Eine Verdoppelung der Arbeitslosenzahl würde schon genügen, gesetzt, die Arbeitslosen gewännen die Fähigkeit, sich zu organisieren.