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Archiv-Artikel

Abtrainierte Hemmungen

Die AutorInnen des Buchs „Entgrenzte Gewalt“ stellen heute ihre Forschungen zum Nationalsozialismus vor

Was motivierte die Täter und Täterinnen im Nationalsozialismus und welche Ursachen hatte die „Entgrenzung der Gewalt“? Zwei Fragen, auf die die AutorInnen des Sammelbands Entgrenzte Gewalt Antworten suchen. Indem sie subjektivistische und objektivistische Geschichtsbetrachtungen des NS durch den Blick auf die handelnden Subjekte vereinen, haben sie in dem Band auch sich ergänzende sozialgeschichtliche Motive und kulturgeschichtliche Aspekte zu fassen gekriegt.

Seit dem Ende des NS bestimmte die Frage nach den TäterInnen den Erinnerungsdiskurs. Weil mit den Antworten auch gleich eine Grenzziehung zwischen der Täterschaft und Gesellschaft festgelegt wird, lösen sie regelmäßig Debatten aus. Bis in die 90er Jahre, betont Habbo Knoch, sei das vergangenheitspolitische Bild von der fanatischen TäterInnengruppen vorherrschend gewesen. Ohne jedoch eine tatsächliche TäterInnenforschung zu betreiben. Nur angesichts dieser „Dämonisierung“, erläutert Knoch, sei Anfang der 90er Jahre Christopher Brownings Buch Ganz normale Männer überraschend gewesen. Browning stellte darin für das Hamburger Polizeibataillon 101 fest, dass die „Entgrenzung“ durch Integrationserwartungen möglich wurde.

Diese These differenziert Hermann Kaienburg aus: mit einer Studie über die SS-Eliteverbände. Deren Gewaltbereitschaft lasse sich auf die völkisch-nationalistische Bewegung zurückführen. „Zur Enttabuisierung“, stellt Kaienburg fest, trugen die aktiven Vorbilder aus den Freikorps bei, die „Brutalität und Mord als Ausweisung von Mut und Tapferkeit interpretierten“. Moralische Hemmungen gegen das Töten wurden durch militärische Übungen ab- und mittels positiver Gewalterfahrungen, etwa durch Saalschlachten, antrainiert.

Dieses Fazit konterkariert nicht etwa die ebenfalls im Band vertretene These Leonie Güldenpfennigs: „Die statistische Auswertung“ habe keine signifikanten Auffälligkeiten ergeben. Denn diese Annahme basiere auf den biografischen und sozialstrukturellen Angaben der Wachmannschaft des KZ Neuengammes. Das Verhalten der NS-Verbrecher war „monströs, die Sozialstruktur der Täter war es jedoch nicht“.

Befremdlich sei weniger die „konstatierbare Normalität“ der TäterInnen, hebt Knoch hervor, sondern vielmehr die „Selbstwahrnehmung“, etwas „ganz ,Normales‘ zu tun“. Heute Abend stellen Güldenpfennig und Kaienburg die Forschungsergebnisse vor. Andreas Speit

heute, 19.30 Uhr, Heinrich Heine Buchhandlung, Schlüterstraße 1KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Entgrenzte Gewalt. Täterinnen und Täter im Nationalsozialismus, Edition Temme, Bremen 2003, 10,90 Euro