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Archiv-Artikel

Hut in Schlappland

All denen gewidmet, die vor den Nazis ins Exil flohen: Udo Lindenberg präsentiert im Thalia sein garantiert staubfreies Album „Atlantic Affairs“

von DIRK SEIFERT

Der Titel von Udo Lindenbergs neuem Projekt lautet Atlantic Affairs. Böswillige Menschen könnten jetzt meinen, er bringe mit dieser Show all die sagenumwobenen Skandale und Affären auf die Bühne, in die er in seinen vielen Jahren im Hamburger Hotel Atlantic verwickelt gewesen sein mag. Aber das ist selbstverständlich dummes Zeug.

Im Zentrum der Atlantic Affairs stehen vielmehr Flucht und Exil. Die Flucht zahlreicher Künstler, die zwischen 1933 und 1945 aus Nazi-Deutschland fliehen mussten, deren Kunst als entartet bezeichnet, deren Bücher verbrannt und deren Musik verboten wurde. Dass sich Lindenberg dieser Geschichte und diesem Erbe widmet, ist bei weitem kein Zufall. Seit Ende der 70er Jahre ist er immer wieder in Sachen Antifaschismus unterwegs. Mit der Tour „Rock gegen rechte Gewalt“ zieht er nicht nur regelmäßig durch die Republik, um gegen alte und neue Nazis zum Widerstand zu ermutigen. „Leider muss man da ja immer wieder was machen“, äußerte sich Lindenberg gegenüber der taz hamburg und bezeichnet Atlantic-Affairs als „irgendwie so ‘ne konsequente Fortführung“.

Die Songs der Künstler, die aus Nazi- Deutschland fliehen mussten, singt er auch nicht zum ersten Mal. „Das ist eine Art Seelenverwandschaft“ mit diesen Exilanten, mit Leuten wie Kurt Weill, Ralf Maria Siegel, Berthold Brecht, Hanns Eisler, Walter Mehring, Anna Seghers, Lotte Lenya, Max Colpet, Friedrich Hollaender, Marlene Dietrich und den vielen anderen, meint Lindenberg. „Die hatten alle einen Traum von der bunten Republik Deutschland. Interkulturell, interreligiös und bunt,“ so der Alt-Rocker. Mit ihnen teilt er „Visionen für eine bessere, faire Welt“. Diesen Geist hätten die Nazis „gnadenlos vernichtet und damit eine ganze Kultur einfach ausgelöscht“.

Aus seiner Sicht hat das Exil der von den Nazis vertriebenen auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufgehört. In Westdeutschland hätten US-amerikanische Einflüsse die Nachkriegskultur geprägt, die Exilanten seien vergessen worden. Im Osten habe man sich zwar mit einigen der Vertriebenen befasst, aber nicht als lebendige Kultur: „Die Asche wurde nur angebetet, das Gedenken institutionalisiert.“

Mit Atlantic Affairs will Lindenberg „das Feuer dieser Künstler“ zurückholen. Dafür hat er durchaus auch aktuelle Gründe, denn ihm fehlt dieser kritische Geist – auch in der Kulturindustrie: „Deutschland ist Schlappland in jeder Beziehung“, stellt er fest: „Seelenloser Kulturbetrieb zwischen Boybands und Deutschland sucht den Superstar.“ Und: „Kaum noch Mut für Frieden und Widerstand.“ Musikalisch ist Lindenberg das Entstauben durchaus gelungen. Elektronische Beats und groovende Bassläufe, schön in den Panik-Orchester-Sound eingebettet, sorgen für ein modernes Klangbild.

Und auch textlich hat Lindenberg für zusätzliche Aktualität gesorgt. So hat er den Song „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ umgeschrieben und „einen Koffer für Berlin“ daraus gemacht. Da drin „schöne Träume“ für eine Hauptstadt der Toleranz, für Frieden sowie eine Bibel und einen Koran. Mit fast 57 Jahren träumt Lindenberg immer noch.

Für die Umsetzung dieses Anliegens hat sich der Rock-Opa zahlreiche Enkel zur Verstärkung herangeholt. Ellen ten Damme, Nathalie Dorra und Yvonne Catterfield, Die Prinzen und Tim Fischer sind auf der CD zu hören, und für die jetzt anlaufende Tour ist Nena ins Set aufgenommen worden. Für die Bühnenshow konnte Lindenberg die Schauspieler Otto Sander und Heinz Hoenig gewinnen. Und den Film zur Show hat Hark Bohm gemacht. Lohnend ist auch die Homepage (atlanticaffairs.de), auf der kurz, aber informativ die zahlreichen Exilkünstler und deren Lebensläufe vorgestellt werden.

Di + Mi, 20 Uhr, Thalia-Theater