: Holgers härtester Kampf
Effizienz ist alles: Wie man sich das halbe Leben einfach sparen kann
„Tu das nicht!“ Holger legte seine Hand auf meine Kaffeetasse, als ich gerade die Milch hineinschütten wollte. „Du nimmst doch bestimmt auch Zucker?“ Selbstverständlich.
Ich weiß zwar, dass der Fettgehalt von Kondensmilch hoch und der industriell gefertigte, weiße Zucker ungesund ist. Aber ich habe vor zwei Wochen mit dem Abnehmen aufgehört und trinke jetzt den Kaffee wieder mit allem Drum und Dran. Darum gehe es gar nicht, entgegnete Holger. Mein Gewicht sei ihm völlig egal. Er wolle mich nur darauf hinweisen, dass mein Kaffee schneller kalt werde, wenn ich die gekühlte Milch in die Tasse gebe, bevor ich den Zucker ausgepackt habe. Umgekehrt sei es viel sinnvoller.
„Das macht doch fast keinen Unterschied“, brummte ich und riss das Zuckerpäckchen auf. Holger ließ nicht locker. „Du kannst den Kaffeegenuss durch die richtige Reihenfolge der Zutaten um einiges verlängern. Lebensqualität fängt im Kleinen an.“ Dann schaute er zu Boden. Dachte er über seine gewagte Theorie nach, oder war ihm etwas hinuntergefallen?
„Deine Schuhe“, vernahm ich Holgers Stimme. „Was ist mit ihnen? Sind sie schmutzig? Ich muss sie mal putzen.“ Nein, das störe ihn nicht, er wolle mich nur darauf aufmerksam machen, dass ich die falschen Schuhe trage. „Schnürschuhe!“ Holger sprach es aus, als ob es das Ekligste wäre, was ein Mensch an seinen Füßen haben könne. „Du trägst Schnürschuhe!“
Ob ich mir schon mal Gedanken darüber gemacht hätte, wie viel Zeit meines Lebens für das Binden der Schnürsenkel drauf gehe, wollte er wissen. Hatte ich selbstverständlich nicht. Höchstens ein paar Sekunden pro Tag, schätzte ich. Holger schaute mich eindringlich an. „Ja. Aber aus Sekunden werden Minuten, aus Minuten werden Stunden, dann Tage, Wochen, Monate, und am Ende hat man sein halbes Leben vertrödelt. Jedes Mal Schuhe binden kostet dich mindestens 15 Sekunden, das Aufschnüren noch mal 5 Sekunden, doppelte Knoten nicht eingerechnet. Selbst wenn du dir nur einmal am Tag die Schuhe bindest und sie wieder aufschnürst, ergibt das pro Jahr zwei Stunden. Im Lauf der Zeit werden locker fünf, sechs Tage draus. Stell dir das mal vor: fast eine Woche deines Lebens nur fürs Schuhebinden! Mal ganz abgesehen davon, dass das Bücken deinem Rücken nicht gut tut.“ Ich schielte unter den Tisch. Holger trug Slipper.
Mit dem Kaffeelöffel auf den Tisch klopfend rechnete er mir vor, wie viel Zeit ich für das Knöpfen von Hemden, das Binden von Krawatten und das Schließen von Gürtelschnallen vergeudete. Würden seine Berechnungen publik, gäbe es wohl einen noch nie da gewesenen Run auf T-Shirts, Pullover und Stretchhosen. Er war bereits bei mehr als drei Monaten Zeitersparnis angelangt.
Aber das sei nur der Anfang, sagte Holger. Er kämpfe jetzt ganz entschieden gegen jede Art versteckter und offensichtlicher Zeitverschwendung. Sein Auto habe er bereits entsprechend umgerüstet und als Nächstes komme das Bad dran. „Die Kloschüssel muss direkt vors Waschbecken. Dann kann ich mir nebenher die Zähne putzen oder mich rasieren“, erklärte Holger mit leuchtenden Augen. „Wahrscheinlich schneidest du nicht nur die Zahnpastatuben auf, um das Letzte draus hervorzukratzen, sondern spuckst nach dem Gurgeln die Mundspülung auch noch ins Klo, um die WC-Ente zu sparen“, mutmaßte ich. Holger sah mich begeistert an: „Noch nicht, aber das ist gar keine schlechte Idee. Muss ich mir gleich notieren.“
Er holte ein Buch aus seiner Leinentasche und schrieb etwas hinein. Als er meinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkte, sagte er: „Ich kaufe am liebsten Lyrikbände. Die Seiten sind nicht so eng bedruckt, da kommt man viel schneller mit dem Lesen voran. Außerdem ist auf den großen weißen Flächen viel Platz für eigene Notizen. Die benutze ich auch als Einkaufszettel.“
Kaum war meine Tasse leer, da drängte Holger zum Aufbruch. Er zahlte für uns beide („Das geht schneller“) und ließ mich draußen noch rasch einen Blick in sein umgebautes Auto werfen. Da waren so nützliche Dinge wie ein Kühlschrank, ein Fernseher und ein Computer eingebaut. Lauter Sachen, die solche dummen, Schnürsenkel bindenden Zeitverschwender wie ich normalerweise nur in ihrer Wohnung haben. „Es macht mir gar nichts mehr aus, wenn ich im Stau stehe“, lachte Holger, „ich kann dann einfach frühstücken, arbeiten oder fernsehen.“ Sprach’s, knallte die Tür zu und brauste davon.
Einige Wochen später erfuhr ich, dass Holger einen tragischen Unfall hatte. Es hieß, er habe auf der Autobahn seinen Fuß nicht mehr rechtzeitig aus der Schuhputzmaschine bekommen, die er sich zwischen Gaspedal und Bremse hatte installieren lassen. Er soll mit über 140 Sachen in einen Lastwagen gerast sein. In der Todesanzeige stand: „Holger ist nur 41 Jahre alt geworden. Er hat sich das halbe Leben erspart.“
MIKE BARTEL