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Archiv-Artikel

Die vielen Unschärfen der Berlinale

Die Berliner Filmfestspiele sind zu Ende. Der Goldenen Bär ging an Michael Winterbottoms „In this World“. Doch in seinem Film gewinnen die Flüchtlinge aus Afghanistan keine Konturen. Wohlwollen ist kein Konzept, das Kino und Politik verbinden kann

Aus der Nähe von Kino und Politik muss keine glückliche Allianz erwachsenEine kleine Gruppe verteilte Flugblätter: „No Peace for Saddam! Fight Old Europe!“

von CRISTINA NORD

Am Freitagnachmittag tritt Oliver Stone vor die versammelten Journalisten, um seinen Dokumentarfilm „Comandante“ zu erläutern. „Comandante“ ist das Resultat einer dreitägigen Begegnung zwischen dem US-amerikanischen Regisseur und Fidel Castro. Im Film trug Stone ein Bärtchen, das ihn ausschauen ließ wie der nicaraguanische Revolutionsführer Daniel Ortega. Möglicherweise wurde so eine Seelenverwandschaft signalisiert. Jetzt ist Stone rasiert, und er wird böse, sobald sich ein Pressevertreter Skepsis erlaubt. Warum er Castro nur unkritische Fragen gestellt habe, will einer wissen, und Stone poltert: „Natürlich ist es leicht zu behaupten, Oliver Stone stelle nur harmlose Fragen.“ Wohin aber hätte ein konfrontativer Interviewstil geführt? Doch nur „zu Streit und Ideologie“. Ein anderer Journalist will wissen, ob Stone den Eindruck habe, dass die kubanische Wirtschaft nicht nur wegen des US-amerikanischen Embargos darniederliege, sondern auch wegen hausgemachter Fehlentscheidungen. Da poltert Stone noch mehr: Man dürfe die wirtschaftliche Situation Kubas nicht mit der der USA vergleichen, sondern müsse andere lateinamerikanische Länder zum Maßstab nehmen. In Peru, in Brasilien, selbst im Norden Argentinien, sagt er, würden Kinder verhungern. Nicht auf Kuba! Dort gebe es Bildung für alle und sauberes Trinkwasser außerdem. Widerspruch wird nicht geduldet, darin ähnelt der Regisseur dem großen Führer der kubanischen Revolution mit dem Unterschied, dass dieser skeptischen Äußerungen mit mehr Charme ausweicht als jener.

Der Film selbst leidet weniger an den unkritischen Fragen als am Manierismus des extremen Close-ups und der hohen Schnittfrequenz. Wieder und wieder zeigt „Comandante“ aus nächster Nähe Castros sauber manikürte Fingernägel, seine Altersflecken und seine Augen. Warum nicht gleich eine einzelne der struppigen Augenbrauen, leinwandfüllend? Die Bilder wechseln rascher, als das Betrachterauge sie aufnehmen kann, eben sah man noch Castros Hand an der Gürtelschnalle, jetzt das Meer am Malecón, gleich darauf Footage aus den späten 50er-Jahren, aus der Zeit des Kampfes gegen Batista, den Diktator. Gipfelpunkt dieser unkonzentrierten Reihung ist, dass Stone zweimal Andrew Lloyd Webbers „Evita“ einspielen lässt: „Dont cry for me, Argentina“. Beim zweiten Mal sieht man, während die Melodie erklingt, den aufgebahrten Körper Che Guevaras, in Bolivien, nachdem er umgebracht worden war. Was Castro, Che Guevara und Eva Perón genau miteinander zu tun haben sollen, überlässt Stone unserer Vorstellung. Es ist dies nur eine der vielen Unschärfen dieses Films.

Wenn das Kino und die Politik sich nahe kommen, muss daraus nicht zwangsläufig eine glückliche Allianz erwachsen. Das war während dieser Berlinale oft zu beobachten. Angesichts des drohenden Krieges gab es von Anfang an eine Sehnsucht, dem Festival eine über den Film hinausweisende Bedeutung zu verleihen. Wenn es bald zur Sache geht, will man sich nicht im Kindergarten der Kunst tummeln, sondern mitmachen – und sei es nur auf der symbolischen Seite der Schlacht. Wie gut trifft es sich da, dass dem Krieg und dem Kino ohnehin eine Verwandtschaft nachgesagt wird. Dass Hollywood und Pentagon einander zuarbeiten, dass man in den vergangenen Monaten von Kriegsfilmen wie „Black Hawk Down“ oder „Windtalkers“ umstellt war, dass ein Kameramann in einem Habit durch die Welt stapft, der sich von dem eines Soldaten kaum unterscheidet: Für aufrechte Ideologiekritiker ist das Grund genug, das Kino unter Generalverdacht zu stellen. Für die wiederum, die angesichts eines Krieges gegen den Irak in Angstlust beben, ist es eine willkommene Koinzidenz. Denn die Nähe nobilitiert den Gegenstand Kino, insofern sie ihn herauslöst aus der Banalität des zivilen Lebens und ihn dorthin bringt, wo es ernst wird.

Komisch nur, dass sich ein großer Teil der Filme, egal ob im Wettbewerb oder in den Nebenreihen, gar nicht mit Krieg befasste, sondern mit Krankheit, die zum Tode führt. Ob in Patrice Chéreaus „Son Frère“, in Isabel Coixets „My Life without me“, Wolfgang Beckers „Good Bye, Lenin!“ oder in Brad Silberlings „Moonlight Mile“: wie man der Sterblichkeit, dem Verlust eines Geliebten, dem Verfall des Körpers begegnet, war eine zentrale Frage dieser und anderer Filme. Offenbar geht es auch da, wo nicht zum Krieg gerüstet wird, um Entscheidendes. Man muss es nur wahrnehmen.

Kaum war das Festival ein paar Tage alt, zeichnete sich eine Verschiebung ab. Nicht mehr die Kriegsgefahr, die Friedensdemonstrationen lieferten nun das politische Unterfutter. „Towards Tolerance“, die Floskel, auf die sich alle verständigen können, schien, je häufiger sie geäußert wurde, tatsächlich an Bedeutung und an Inhalt zu gewinnen. Dieter Kosslick wurde nicht müde, die Friedfertigkeit des Festivals zu betonen. Und die Stars machten mit: Dustin Hoffman sprach sich vehement gegen die Politik Bushs aus, andere US-amerikanische Schauspieler folgten ihm. Die Frage, warum sie zu diesem Zweck nach Berlin fliegen mussten, blieb indes unbeantwortet. Und die kleinen Verstimmungen blieben unberücksichtigt. Wer wollte schon so genau hinhören, wenn der US-Amerikaner Michael Kutza, Mitglied der dreiköpfigen Jury, die den Manfred-Salzgeber-Filmpreis verleiht, sagte, er gebe sich zurzeit in Berlin lieber als Kanadier aus, weil er als US-Amerikaner schief angesehen werde? Am Tag der Abschlussgala demonstrierten 500.000 Menschen für den Frieden, während eine kleine Gruppe vor dem Bahnhof Potsdamer Platz Flugblätter verteilte: „No Peace for Saddam! Fight Old Europe!“

Unschärfen wie bei „Comandante“ ließen sich auch anderswo beobachten. Der hoch gelobte und mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete Film „In this World“ von Michael Winterbottom zum Beispiel leidet daran. Winterbottom hat mit Laiendarstellern gedreht, mit afghanischen Flüchtlingen, die von der pakistanischen Stadt Peschawar aus gen Europa aufbrechen. Die Mischung von Dokumentarischem und Fiktion kann gerade bei den Sujets Flucht und Grenze zu wunderbar dichten Filmen führen. Chantal Akerman hat das mit „De l’autre côté“ bewiesen, einem Film, der an der Grenze zwischen den USA und Mexiko angesiedelt ist. Er wurde im vergangenen Jahr in Cannes gezeigt und wenig später als Videoinstallation auf der Documenta.

Einmal lädt die Regisseurin eine Gruppe mexikanischer Migranten zum Essen ein. Sie sitzen um den Tisch und erklären, warum sie in die USA wollen. Sie erinnern sich an die, die beim Versuch, die Grenze zu überqueren, umgekommen sind. Obwohl Chantal Akerman diese Menschen keineswegs als Helden inszeniert, obwohl sie ihnen kein psychologisches Profil verleiht, haben sie doch Kontur, werden ihre Beweggründe deutlich, ihre Hoffnungen und ihre Sicht auf die Welt.

All das spart sich Winterbottom, genauso wie eine ästhetische Perspektive auf sein Sujet, die über das Paradoxon nachgestellter Authentizität hinausginge. Akerman reagiert auf die stumpfe Ungerechtigkeit einer Welt, die den einen die Mobilität erlaubt, sie den anderen aber verbietet, mit mehrminütigen, stummen Travellings: Da ist die Wüste, und sie gibt keine Antworten. Winterbottom hingegen zeichnet Fahrtrouten auf Landkarten wie in einem Film für den Geografieunterricht. Seine Hauptfiguren, Jamal (Jamal Udin Torabi) und Enayat (Enayatullah), bleiben blass. Sie wollen nach Europa, das ist klar, aber mehr erfahren wir nicht, nichts über ihre Hoffnungen, nichts über ihre Erwartungen, nichts über ihre Ängste. Wie betrachtet man eigentlich die Welt, wenn man in Peschawar großgeworden ist? „In this World“ weiß es nicht zu vermitteln.

Nun könnte man Winterbottom zugute halten, dass er nur wiedergeben möchte, wie gesichtslos illegalisierte Flüchtlinge für unsereinen gewöhnlich sind. Das jedoch wäre zu wenig für einen Film, der zwei Flüchtlinge zu seinen Hauptfiguren macht. Der Blick des Regisseurs bleibt an der äußersten Schicht, er durchdringt nichts und erklärt daher auch nichts, und er verzichtet auf fast alles, was künstlerische Verdichtung des Sujets hätte werden können. Wenn überhaupt, so nutzt Winterbottom müde dramaturgische Kniffe: Wie bei einem Horrorfilm, in dem man weiß, wer zuerst stirbt, lässt sich recht leicht erraten, welche der beiden Figuren die Reise überlebt und welche nicht.

Dass „In this World“ trotzdem den Bären erhalten hat, liegt wohl an der eigentümlichen Rückwärtsreise, die wir erleben: So wie es bei Stone möglich ist, einen unreflektierten Internationalismus zu pflegen, so scheint bei Winterbottom der gute Wille auszureichen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich vielleicht auch, warum viele Journalisten während der Konferenz zu „Comandante“ böse zischen oder den Kopf schütteln, sobald einer es wagt, Kritik zu äußern.

Die Fronten sollen bitte klar sein, und selbst gut verdienende Presseagentinnen träumen plötzlich von der Solidarität, der Zärtlichkeit der Völker. Dabei liegt es auf der Hand, dass, wer das Kino und die Politik zusammenbringen will, bessere Konzepte braucht als Wohlwollen und altlinke Weisheiten. Toleranz ist schwierig, etwas, was ausgehandelt, erstritten, erduldet werden muss. Es gab auch auf dieser Berlinale Filme, die davon zu erzählen wussten. Hoffentlich sehen wir auf der nächsten mehr davon.