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Archiv-Artikel

normalzeit Helmut Höge über Raucherlokal-Kolorit

Staunen über den Kita-Boom oder Das Kreuzberger „Ritterstübl“ im gnadenlosen Wandel der Zeit

Kaum hat man mal eine Weile die Kreuzberger Ritterstraße umgangen, schon steht dort eine neue Schule. Diesmal ist es eine rostrote Kita. Nächste Woche wird sie eingeweiht. Auf der anderen Seite der Kreuzung zur Alexandrinenstraße haben die Kreuzberger Anthroposophen ihre Schule erweitert. Ebenfalls mit einem Anbau in Rostrot, hier aber natürlich viel pastellierter. In der Gartenbaracke „Ritter-Stübl“, genau zwischen den beiden Bildungsstätten gelegen, rätselte man eine Weile, wer für den Kita-Neubau nun aufkommen müsse.

Einige meinten, das sei aus dem umgeleitetem Kindergeldtopf der CDU-Familienministerin finanziert worden – als eine Art Kredit auf die Zukunft. Solche „Geschäfte“ würde die Frontstadt seit der Blockade gern tätigen, behaupten manche Wirtschaftsexperten. Ein anderer Teil der Gäste vertrat die These, dass dem Kita-Neubau eine Studie zugrunde lag, nach der im Ritter-Alexandrinen-Kiez die alte, meist kinderlose SPD-Klientel rapide abnähme, die jungen kinderreichen Zuwanderergruppen jedoch zu.

Dem entgegnete einer der Stammgäste des „Ritter-Stübl“: Eine solche Studie müsste den Anthroposophenanbau als Investitionsruine begreifen, denn die neuen Ritter-Kiez-Bewohner seien alles andere als christlich-anthroposophisch eingestellt, ein paar Russen in den Hochhäusern vielleicht ausgenommen. Es schälte sich schließlich eine dritte These heraus: Der Kita-Neubau sei eine Investition auf Public-Private-Partnership-Basis. Und diese werde sich nach der Kindergelderhöhung in Form von immer höheren Kita-Gebühren rentieren.

Eine fünfte Zusatzthese besagte: Man wollte damit einfach ein Zeichen setzen – scheißegal, was es kostet. Die Wirtschaft beruhe zu 70 Prozent auf Psychologie. Im Übrigen sei das Ganze im Schnellbauverfahren hochgezogen worden und halte keine zehn Jahre, im Gegensatz zu der Senioren- und Juniorenfreizeitstätte nebenan, die als Flachbau mit extra hart gebrannten Ziegelsteinen hochgemauert worden wäre. Auf die Frage, was es denn mit der ebenfalls neuen Kita am Ende der Ritterstraße am Axel-Springer-Park auf sich habe, wusste zunächst keiner eine Antwort: Alle hatten schon lange nicht mehr die Lindenstraße überquert. Bis auf den „Schluckspecht“, der zum Arbeitsamt musste, das jetzt Jobcenter heißt und sich im Axel-Springer-Komplex eingemietet hat. Die Miete dort betrage angeblich 120.000 Euro im Monat. Hinzu käme noch der ideelle Gewinn, weil die Springer-Journalisten nun täglich von oben einen Blick auf die Schlange der Arbeitslosen vor dem Jobcenter werfen können, das deswegen auch keine Warteräume habe. Auf bequeme Weise bekämen sie einen Eindruck von der Wirklichkeit.

Über die Kita am Ende der Ritterstraße wusste der „Schluckspecht“ nur wenig: Sie würde den deutschen Verlegern, die gleich dahinter ihr schräges, graues Verbandsgebäude errichteten, gehören. Anscheinend hatten die in ihrem früheren „Pressehaus“ An der Urania Ecke Kurfürstenstraße die Erfahrung gemacht, dass es dort nirgendwo Kita-Plätze für die Mitarbeiter gab. Nun habe man quasi vorgesorgt, denn die deutschen Verleger seien in ihrer Mehrheit ohne erfahrene Sekretärinnen aufgeschmissen. Diese würden eigentlich den Laden da schmeißen, deswegen die Kita nur für ihre Kinder, eingezäunt. Gleich davor befände sich ein – ebenfalls eingezäunter – Bolzplatz für Schulabbrecher, die nun alles auf eine Karte setzen und Profifußballer werden wollen, zwei auch Hiphop-Stars. Mit der Begründung: Man muss flexibel sein, Mann. Alles lachte.

Ja, das kannte man. Die Baracke „Ritter-Stübl“ war von Flexibilität und Investitionsquatsch geradezu umzingelt. Deswegen drang auch selten von dort etwas nach außen. Zwar wird man das „Ritter-Stübl“ im Forum „smoke-spots.de“ finden, aber vergeblich sucht man dort nach „Bildern, Tags und Meinungsäußerungen“.

Nur einmal konnte jemand nicht an sich halten, das war im „berliner-busforum.de“ als es darum ging, ein altes Foto zu identifizieren: Da beschrieb ein Dr. h. c. Gellstein aus Steglitz genau, was dort früher auf den Freiflächen alles gestanden hatte – anschließend meinte er: „Lustige Erinnerungen an den Ort hab ich trotzdem: Vielleicht weil scharf links vom Aufnahmeort das Ritter-Stübl ist (Ecke Ritterstraße), wo mein Onkel sich immer die Kante gegeben hat …“