Mobilisierung der Zuschauer

Deutschland im Friedenstaumel? Nein! Die große Berliner Demo zeigt: Im Vordergrund der neuen Friedensbewegung steht keinesfalls der pazifistische Fundamentalismus vergangener Jahrzehnte

In Bewegung geraten sind nicht nur die klassisch Friedensbewegten

von WOLFGANG KRAUSHAAR

Es ist wahr. Der letzte Samstag, der 15. Februar 2003, war ein historischer Tag. Die Friedensbewegung hat sich zu diesem Datum nicht einfach zurückgemeldet, sie hat alles in den Schatten gestellt, was sie zuvor jemals auf die Beine zu stellen vermochte. Die Umstandslosigkeit, mit der an einem solch trüben, düsteren und nasskalten Wintertag eine halbe Million Menschen in der Mitte Berlins zusammenströmte, um ein kollektives Zeichen gegen den bevorstehenden Irakkrieg zu setzen, war mehr als nur eine Überraschung. Die quantitative Dimension ist jedoch nur ein Teil des Phänomens.

Das Bild, das die Demonstranten boten, entsprach nicht mehr ohne weiteres den Klischees, die seit langem existieren, um sich friedensbewegte Deutsche vorzustellen. Zwar gab es nach wie vor jene, die dem Bild des ewigen Ostermarschierers entsprachen, der keine Gelegenheit auslässt, um vor allem seine Gesinnung zu demonstrieren. Diese gingen jedoch unter in dem großen Getümmel rund um das Brandenburger Tor. Ungewohnte Teilnehmer gab es mehr als je zuvor.

Zugegeben, es gab auch Kurden, die unverdrossen „Freiheit für Öcalan“ forderten, Araber, die offenbar nichts anderes als eine Gelegenheit suchten, um wieder einmal „Uncle Sam“ an den Pranger zu stellen, Palästinenser, denen die Menge ein unfreiwilliges Auditorium bot, den Staat Israel zu verdammen, und deutsche Rechtsradikale, denen das Ganze ein Forum für ihren Antiamerikanismus war. Niemand kann sich seine Begleiter aussuchen. Daraus den Organisatoren oder den anderen Teilnehmern einen Vorwurf machen zu wollen, wäre zumindest kurzschlüssig, vielleicht sogar denunziatorisch. Das Spektrum der Demonstranten war an diesem Tag so außerordentlich groß, dass einige Journalisten auf dem Nachhauseweg vor allem mit der Frage beschäftigt waren, ob das etwa der so oft zitierte Durchschnitt der Gesellschaft gewesen sei, was sie zuvor gesehen hatten.

Unter dem Eindruck des Berliner Aufmarsches und der weltweiten Demonstrationsfront insgesamt hat sich die Stimmung hierzulande sofort spürbar verändert, insbesondere was das Verhältnis der Medien zur Bundesregierung anbetrifft. Es war allerdings kein „Deutschland im Friedenstaumel“, wie etwa Richard Herzinger in der Zeit meint, als habe man in Berlin den Ausbruch blinder Gesinnung erleben können. Es hatte wohl weniger mit Gefühlen zu tun, was die Demonstranten auf die Straßen getrieben hat, eher etwas mit der Wahrnehmung einer letzten sich noch bietenden Hoffnung. Es dürfte wohl die Empörung über die aggressive Haltung und den arroganten Ton der Bush-Administration ebenso gewesen sein wie die Befürchtung, beim Ausbruch eines Krieges von jeder Einflussmöglichkeit abgeschnitten und zum Zuschauen verurteilt zu sein – Empörung und Befürchtung, aber kein Rausch, keine apokalyptisch gestimmte Angst und schon gar keine Weltuntergangsstimmung wie etwa zur Zeit der Menschenketten in Baden-Württemberg und der Sitzblockaden von Mutlangen vor zwanzig Jahren.

In der alten Bundesrepublik war die Friedensbewegung zweifelsohne die größte und bedeutendste Protestbewegung, die überhaupt existiert hat. Trotz vieler Misserfolge hat sie das Bild vom Bundesbürger, das Bild vom Nachkriegsdeutschen, der sich endlich seiner ihm immer wieder nachgesagten militaristischen Mentalität entledigt hat, mitgeprägt. Es gab zwei längere Phasen, in denen die Friedensbewegung nicht nur über eine starke Anhängerschaft verfügte, sondern auch eine große Ausstrahlung besaß – zunächst in den Fünfzigerjahren und dann in den frühen Achtzigerjahren gegen die im Rahmen des Nato-Nachrüstungsbeschlusses geplante und vom damaligen SPD-Kanzler Helmut Schmidt auf die Agenda gesetzte Stationierung von Mittelstreckenraketen.

In den Sechziger- und Siebzigerjahren war die Friedensbewegung hingegen sehr viel schwächer. Die immer wieder gern zitierten Ostermärsche, die im Anschluss an die 68er-Bewegung sogar über lange Zeit eingestellt wurden, waren eher ein alljährlich wiederkehrendes Ritual im Kalten Krieg, das die Aussichtslosigkeit seiner politischen Forderungen kaum überdecken konnte. Alle diese Bewegungen und Kampagnen richteten sich in erster Linie gegen die Politik der jeweiligen Bundesregierung.

Nachdem sich mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Mauerfall bereits die großen politischen Koordinaten verändert hatten, zeigten bereits der zweite Golfkrieg von 1991 und stärker noch die darauf folgenden Kriege im ehemaligen Jugoslawien, dass es immer weniger Selbstverständlichkeiten unter den einst so friedensbewegten Deutschen gab. Insbesondere prominente Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger und Wolf Biermann kündigten die vermeintlichen Gemeinsamkeiten auf und traten dafür ein, Militärschläge gegen menschenverachtende Despoten wie Saddam Hussein gutzuheißen.

Der seitdem ausgebrochene Konflikt zwischen den so genannten Bellizisten und den angeblichen Pazifisten ist angesichts des drohenden Irakkrieges nicht einfach aufgehoben, sondern nur ein gutes Stück überdeckt worden. Viele derjenigen, die aus politischen und humanitären Gründen in den Neunzigerjahren für Militärinterventionen waren, sind jetzt aus nicht weniger plausiblen Gründen gegen einen Angriff auf den Irak.

Von dieser die Gräben des letzten Jahrzehnts überwölbenden Koalition ist das Bild der Berliner Demonstration stark mitgeprägt gewesen. Nicht der aufdringliche pazifistische Fundamentalismus vergangener Jahrzehnte stand dort im Vordergrund, der sich schon immer dem Verdacht ausgesetzt sah, es gehe ihm stärker darum, seine eigene deutschtümelnde Gesinnung zu retten als das Leben von in anderen Ländern bedrohten Menschen, sondern eine pragmatisch-nüchterne, aber keineswegs abgestumpft-gefühlskalte Haltung. In Bewegung geraten sind nicht nur die klassisch Friedensbewegten, sondern diesmal auch diejenigen, die bislang als Zuschauer galten, die es aber angesichts des absurden Szenarios, wie eine US-Regierung mit einem Schlag alles, was seit dem Zweiten Weltkrieg an supranationalen Einrichtungen und universalistischen Wertorientierungen entwickelt worden ist, aufs Spiel setzt, nicht mehr auf den Sitzen gehalten hat.

Über all diese Fragen mag weiter diskutiert, gestritten und spekuliert werden, viel entscheidender jedoch ist es, eine Antwort darauf zu finden, ob sich mit einer solchen höchst ungewöhnlichen, vielleicht sogar einmaligen Demonstration wie der vom letzten Samstag politisch etwas bewirken lässt. Nur schwer lässt sich vorstellen, dass sich eine zu allem entschlossene Regierung der einzig noch verbliebenen Weltmacht dadurch tatsächlich aufhalten lassen könnte.

Wäre denn überhaupt noch ein Szenario denkbar, in dem die beeindruckende Ablehnungsfront der europäischen Länder und die weltweit 10 bis 15 Millionen Demonstranten Einfluss üben könnten? Am ehesten wohl in Großbritannien. Der britische Premier Tony Blair ist unter den Regierungschefs ganz offenbar das schwächste Glied in der Kette der Kriegsbefürworter. Den Druck auf ihn zu verstärken müsste das vordringlichste Ziel sein. Ein Premierminister, der sich gegen 90 Prozent seiner Bevölkerung stellt, dürfte auf verlorenem Posten stehen. Ob dabei allerdings auch die deutsche Friedensbewegung eine aktive Rolle spielen könnte, ist eher unwahrscheinlich.

Eines dürfte jedoch jetzt schon sicher sein: Der Massenprotest wird gewiss keine Eintagsfliege bleiben. Wenn der Irakkrieg kommt, dann wird es bundesweit weitere Demonstrationen geben. Am Nachmittag des „Tages X“ werden Zehntausende durch die Straßen ziehen. Welche Dynamik sich daraus entwickeln wird, hängt von vielerlei Faktoren ab, insbesondere wohl vom Kriegsverlauf selbst. Falls es den USA, ob mit oder ohne Großbritannien, gelingen sollte, das Regime Saddam Husseins rasch zu bezwingen, dann wird die deutsche Friedensbewegung wahrscheinlich ebenso schnell wieder in sich zusammenfallen, wie sie emporgestiegen ist, emporgestiegen an einem ungemütlichen Samstag in Berlin.