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Archiv-Artikel

Deutschland, ein Pfadfinderlager

In der Diskussion über die Reform von Arbeitsmarkt und Sozialsystem wird nicht ehrlich benannt, worum es am Ende gehen wird: wer welche Opfer bringen muss

100 Euro mehr oder weniger entscheiden darüber, ob man am öffentlichen Leben teilnehmen kann

Deutschland befindet sich im Härtetest, angeblich. „Grausamkeiten“ werden kommen, warnt der Chef der Sozialkommission, Bert Rürup. „Schmerzhafte Einschnitte“ stehen den Bürgern bevor, tönen Kommentatoren. Allerorten wird ein Abbau der sozialen Sicherung verlangt. Ein Wirtschaftsmagazin entwarf gar ein „Reformbarometer“, in dem Leistungskürzungen und Abbau der Arbeitnehmerrechte für Hochs sorgen.

Wenn sich die Reform-Metaphorik dem Wetterbericht annähert, ist Vorsicht geboten. Bekanntlich schlägt die Stunde der großen Vereinfachungen, wenn die Dinge in Wirklichkeit kompliziert liegen. Gegenwärtig herrscht kein Mangel an reformerischer Energie, wie oft behauptet wird, sondern eher eine Konfusion über das, was man als „gerechte Reformen“ bezeichnen kann.

Die Frage lautet: Wer soll welche Opfer bringen? Es ist keine Lösung, wenn man, wie bisweilen die Gewerkschaften, so tut, als existiere diese Frage nicht. Und es ist auch keine Lösung, wenn man wie viele politische Kommentatoren einfach nur fordert, der Kanzler müsse hart durchgreifen und den verweichlichten Bundesbürgern mehr Härten zumuten. Der Sozialstaat ist kein Pfadfinderlager.

Vielleicht mangelt es den Leuten gar nicht an Duldsamkeit. Was fehlt, ist nicht Veränderungsbereitschaft, sondern eine verstehbare öffentliche Diskussion über die Maßstäbe von Gerechtigkeit, nach denen die Politik Verzicht fordert. Eine solche Debatte ehrlich zu führen, erfordert Mut. Der ist bisher in der Politik wenig zu spüren.

Stattdessen werden Einsparungen ideologisiert – bis hin zu falschen Versprechungen. Die Beschäftigungspolitik der rot-grünen Regierung ist dafür ein gutes Beispiel. Der wohl dramatischste Einschnitt dort dürfte die Zusammenlegung der Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe zum so genannten Arbeitslosengeld II sein.

Im nächsten Jahr schon sollen dafür neue Gesetze gelten. „Zusammenlegung“ – das bedeutet, dass die Bezieher von Arbeitslosenhilfe (Alhi) künftig nur noch eine Leistung bekommen, die sich möglicherweise auf Sozialhilfeniveau befindet. Das zumindest fordert der Chef der Erneuerungskommission, Bert Rürup.

Im Gegenzug zu den Kürzungen wolle man den Arbeitslosen bei der Jobsuche helfen, betont die Grünen-Sozialexpertin Katrin Göring-Eckardt: „Wer arbeiten kann, soll ein Angebot bekommen. Wir wollen fördern und fordern.“ Damit bedient sie sich jedoch einer Ideologie, die von der Wirklichkeit in Deutschland längst überholt worden ist. Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen und schlechter Konjunktur ist es schlicht leichtsinnig, zu erklären, im Gegenzug zu den Kürzungen biete man „eine wirkliche Integration in den Arbeitsmarkt an“.

1,7 Millionen Menschen bekommen Arbeitslosenhilfe. Niemals kann man einer Mehrheit dieser Leute eine öffentlich geförderte Beschäftigung anbieten, es sei denn, man will Strafarbeiten an Joblose verteilen. Für Weiterbildung und Beschäftigungsmaßnahmen sind schon in diesem Jahr 800 Millionen Euro weniger im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit vorgesehen. Und mehr Steuergelder für Jobmaßnahmen soll es nicht geben.

Die Hoffnung, in der Privatwirtschaft mit weniger Subventionen mehr Jobs zu schaffen, hat sich bisher zerschlagen. Das so genannte Mainzer Modell, bei dem Jobs subventioniert werden, weist nur spärliche Erfolgszahlen auf, weil es an passenden Stellen mangelt.

Auch die Zeitarbeiter in den neuen Personal-Service-Agenturen, auf die so viele Hoffnungen gesetzt wurden, sind abhängig von der Nachfrage der Wirtschaft. Und die ist zurzeit begrenzt.

Die „Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt“, erklärt der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, unermüdlich zum obersten Ziel seiner Ämter. Doch das kann für die meisten Arbeitslosen nicht funktionieren, wenn es vielerorts kaum einen aufnahmefähigen ersten Arbeitsmarkt gibt.

Eine Absenkung der Arbeitslosenhilfe würde also für viele Alhi-Empfänger schlichtweg eine Kürzung ihrer Einkommen bedeuten. Etwa ein Viertel der Arbeitslosenhilfe-Bezieher bekommt heute eine Leistung, die höher liegt als die Sozialhilfeleistungen. Bei einer Absenkung müssten diese Empfänger vielleicht auf 100 oder 200 Euro im Monat verzichten. Drei Milliarden an Steuergeldern sollen durch die Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe gespart werden.

Viele Politiker kommen nun mit einer Aktivierungsthese. Sie behaupten, dass viele Arbeitslosenhilfeempfänger einen Job annehmen würden, wenn die Stütze nicht mehr so hoch sei. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, wie Forschungen zeigen. Doch selbst wenn man annimmt, dass vielleicht 10 bis 15 Prozent der Langzeitarbeitslosen einen schlecht bezahlten Job in der Wirtschaft akzeptierten, wenn sie weniger Stütze bekämen, dann bleibt immer noch eine Mehrheit, die diese Chance gar nicht hat.

Es sind die Älteren, gesundheitlich Angeschlagenen, der 53-jährige Exfacharbeiter in Bremerhaven, die 45-jährige joblose Sachbearbeiterin im brandenburgischen Neuruppin: Sie würden gewissermaßen geopfert, damit sich vielleicht am Rande des Arbeitslosenheeres etwas bewegt. Befürworter der Kürzungen könnten nun sagen, auch Arbeitslose müssten halt ihren Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Haushalte leisten. Da mag was dran sein, nur muss man eben über die Proportionen diskutieren.

Auch von Rot-Grün werden Einsparungen ideologisiert – bis hin zu falschenVersprechungen

Es ist ein Unterschied, ob ein Alhi-Empfänger mit vielleicht 700 Euro Einkommen plötzlich 100 Euro weniger zur Verfügung hat. 100 Euro mehr oder weniger können entscheiden über Kino-, Schwimmbad-, Kneipenbesuche. Sie machen in dieser Einkommensgruppe genau den Unterschied: Entweder man kann am öffentlichen Leben teilnehmen oder eben nicht.

Keinen Ausschluss hingegen bedeutete es, wenn mittlere Verdiener künftig 20 Euro monatlich für eine Zusatzkrankenversicherung aufwenden müssten. Und wenn man die Renten zwei Jahre lang nicht an die Preisentwicklung anpasst, fallen dadurch auch nicht Millionen alter Menschen in Armut.

Vielleicht wäre es doch die beste Idee, die Sache mit dem „Arbeitslosengeld II“ in die unabsehbare Zukunft zu verschieben. Man kann auch ohne Leistungseinschränkungen „Jobcenter“ für Alhi-Bezieher und Sozialhilfeempfänger eröffnen. Wenn die rot-grüne Politik trotzdem auf Kürzungen besteht, dann muss sie zumindest nach Empfängergruppen differenzieren. Wer jahrzehntelang gearbeitet hat und jenseits der 50 seinen Job verliert, dem zumindest sollte man nicht die Arbeitslosenhilfe kappen.

Die Pläne zur Arbeitslosenhilfe zeigen: Wer über Kürzungen spricht, der muss sich der politischen Frage der Opferung stellen. Es ist eine kalte Frage mit einer kalten Antwort. Mit einem Hoch im Wetterbericht hat sie nichts zu tun.

BARBARA DRIBBUSCH