: Böller, Bäuche und andere Orgien
Auf der Suche nach der Gegenveranstaltung: Im Club der polnischen Versager konnte man sich Silvester aus Marquis de Sades „Justine und Juliette“ vorlesen lassen. Es stellte sich heraus, dass an diesem einen Tag im Jahr einfach kein Entkommen ist
VON SANDRA LÖHR
Jedes Jahr dasselbe. Erst kommt Weihnachten mit der komplizierten und Nerven aufreibenden Essens-, Geschenke-, „Wo und mit wem verbringt man welchen Feiertag?“-Planung und dann gibt es ein paar seltsame Tage, an denen zwar die Geschäfte wieder geöffnet haben, aber das Jahr trotzdem einem stotternden Motor gleicht, weil es eigentlich schon vorbei ist und seine Ruhe haben will, aber nicht darf, weil noch mal gefeiert werden muss.
Noch einmal will alles geplant sein, man soll herumtelefonieren und obwohl man sich jedes Jahr schwört, es diesmal ganz anders zu machen, quetscht man sich in letzter Minute doch wieder mit vielen anderen Verzweifelten in quadratische Flachbauten mit kilometerlangen Regalen auf der Suche nach etwas Ess- und Trinkbaren. Am Bäckerstand ringeln sich schlappe Luftschlangen um das Brot, das Baguette ist seit 10 Uhr ausverkauft, vom Prosecco gibt es nur noch die teureren Sorten, und die Frauen an der Supermarktkassen kassieren mit blinkenden Hütchen auf blond gefärbten Haaren und mit mürrisch-leerem Blick angesichts der nicht enden wollenden Prä-Feiertags-Hektik. Und während man vor der Kasse in der Schlange wartet, überlegt man, ob es diesmal nicht doch schön wäre, seine Mitmenschen mit der Superböllerei, „Taifun“, „Excalibur“ (Inhalt: 3 Mehrschlagbomben), „Original Sachsenknaller“ oder „Pikkolo“, dem großen Tischbombenset für 5,99 Euro, zu erfreuen – verwirft den Gedanken aber schnell wieder, weil man bei der komplizierten und gefährlich wirkenden Feuerwerksgebrauchsanleitung, sofort abgerissene Finger assoziiert.
Dann doch lieber abends fernsehen, Dieter Thomas Heck und seine lustigen Schunkellieder, oder Tony Marshall, flankiert von vier halbwüchsigen brasilianischen Sambatänzerinnen, während er mit seinem gewaltigen Bierbauch durch Karl Moiks Silversterstadl zieht. Es galt also unbedingt, es am letzten Tag im vergangenen Jahr ein einziges Mal alles anders zu machen, sich der Feier zum Jahresende einfach zu verweigern und eine schöne Gegenveranstaltung, eine stinknormale Kulturveranstaltung etwa, zu suchen.
Gar nicht so einfach an diesem Tag, aber nicht unmöglich: Hartmut Fischer und Ines Burdow luden beispielsweise im Club der polnischen Versager, gänzlich ungerührt von bürgerlich-kalendarisch vorgeschriebenen Feiertagen, wie an jedem zweiten Mittwoch im Monat zur Lesung der 108. Folge von Marquis de Sades zehnbändigem Hauptwerk „Justine und Juliette“. Seit 1999 finden diese Lesungen statt. Im Frühjahr musste Hartmut Fischer, der einstige Besitzer von Juliettes Literatursalon, seine Buchhandlung in der Gormannstraße zwar wegen Insolvenz schließen, aber die Veranstaltungen, die sich um den Salon rankten, haben seit November im Club der polnischen Versager neben dem Kaffee Burger in der Torstraße eine neue Heimat gefunden. „Inhaltlich ist das Projekt ja nicht gescheitert, nur ökonomisch“, sagte Hartmut Fischer zur Begrüßung. Und da die Supermärkte schon geschlossen hatten und die Silvesterpartys sowieso erst gegen 22 Uhr richtig anfangen, fanden sich am späten Nachmittag tatsächlich ein gutes Dutzend Zuhörer zusammen, um für einige Stunden mit den gegen jede bürgerlich-aufgeklärte Moral gerichteten Texten de Sades dem Jahresabschlusswahnsinn zu entkommen.
„Sicherlich hat er gelitten und ist gestorben, um die Einbildungskraft der besseren Wohnviertel und der Literatencafés zu erhitzen“, heißt es schon bei Albert Camus über den von der französischen Gesellschaft für 27 Jahre weggesperrten Marquis, und wie zum Beweis dieser These gab es gleich am Anfang eine Art Video-Compilation vergangener Lesungen mit Blixa Bargeld und Katharina Thalbach zu sehen, in denen ab und zu kurze Sequenzen von kopulierenden Paaren in Großaufnahme auftauchten. Danach lauschte man im abgedunkelten Club den ausschweifenden Erlebnissen der Juliette, die sich im Gegensatz zu ihrer tugendhaften Schwester Justine, dem Laster hingibt, sich an Orgien erfreut und damit gut durchs Leben kommt. Zum Schluss gab es dann noch einen kurzen Film über Dominas zu sehen, der nicht gut war, aber auch nicht wirklich schlecht.
So richtig gut an der Veranstaltung aber war tatsächlich, dass man endlich einsehen konnte, dass zu Silvester die Sehnsucht nach Kontemplation und Alltagstrott nichts zu suchen hat und man sich deswegen beim nächsten Mal gleich mit Böllern und Tony Marshall begnügen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen