Lexika etc.
: Gegenwartsliteratur

Mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hat es so seine seltsame Bewandtnis. In germanistischen Seminaren verstand man darunter noch Anfang der Neunzigerjahre gerade mal Grass, Walser und Lenz. Zehn Jahre später war man ihrer Allgegenwart so überdrüssig, dass sie landauf, landab am liebsten für tot und nichtig erklärt wurde (Pop!). Fast ein kleines Wunder ist es da, dass sie nun wieder einmal gebündelt und kompakt in einem Lexikon vorliegt, dem Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Erstmals 1965 von Hermann Kunisch herausgegeben, letztmals 1997 erschienen, wurde es jetzt von dem Publizisten und Literaturkritiker Thomas Kraft neu überarbeitet, trägt aber weiter den Zusatz „nach 1945“. Der Schaffensschwerpunkt der Gegenwartsautoren ist also zumindest zeitlich eindeutig definiert.

Trotzdem hebt Kraft in seinem Vorwort heraus, dass man sich im Vergleich beispielsweise zu 1981, als von einem „Herantasten an die Gegenwart“ die Rede war, dieses Mal „inmitten derselben“ befinde. Das bedeutet Einträge für junge oder bislang nur mit wenigen Werken hervorgetretene Autoren und Autorinnen wie Marcus Braun oder Elke Naters, Christian Kracht oder Daniel Kehlmann, Juli Zeh oder Frank Schulz. Das bedeutet aber auch, dass ein gerichtliches Verbot wie für Billers Roman „Esra“ nur angedeutet oder wie im Fall von Alban Nikolai Herbsts „Meere“ nicht mal erwähnt wird – auch ein Gegenwartsliteraturlexikon hat seinen Redaktionsschluss. Wichtiger ist sowieso die sorgfältige Auswahl und sympathisierende Vorstellung der Autoren und ihrer Bücher durch Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker. Kritische Einwände bleiben außen vor, ein Lexikon ist kein Rezensionsblatt, was auch an der Aufgabenverteilung liegt: Moritz Baßler etwa stellt Christian Kracht vor, und eben nicht Thomas E. Schmidt. Christa Wolf wird von ihrem Biografen Jörg Magenau vorgestellt, und eben nicht von Baßler.

Selbstverständlich lädt so ein Lexikon auch zum Erbsenzählen ein, stellt sich wie bei den vielen unsäglichen Kanons die Frage: Warum eigentlich der und andere nicht? Warum Selim Özdogan, aber nicht Markus Seidel? Warum nicht der Suhrkamp-Autor Jochen Link? Dessen Bücher wie „A oder die Reise an den Anfang der Scham“ oder „Tage des schönen Schreckens“ las man Anfang der Achtziger, als man „Irre“ und „Rawums“ durchhatte und schwer auf der Suche nach noch mehr neuen und jungen Autoren war. Warum nicht die jüngst so erfolgreichen Frank Goosen und Sven Regener? Hier wird die Gegenwart eben doch etwas brenzlig, hier haben zuweilen ästhetische Kategorien, Literaturdefinitionen und wohl auch Vorlieben eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Richtigerweise findet Benjamin v. Stuckrad-Barre seinen Platz, aber nicht der arme Joachim Lottmann, der selbst ernannte Popliteraturerfinder. Fast alles bestens also, nicht tadellöser, aber zumindest sehr ordentlich. GERRIT BARTELS

„Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. Hrsg. von Thomas Kraft. Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, München 2003, 2 Bd., 1.400 S., 178 Euro