: Basar für eine neue Welt
Die informelle Stadt wächst. Nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den Metropolen in Osteuropa und an der deutsch-polnischen Grenze. Doch die Urbanisten tun sich noch schwer mit der Stadt der Basarhändler und Überlebenskünstler
von UWE RADA
Die Geschichte der europäischen Stadt ist die ihrer wundersamen Wandlung vom Marktplatz zur Marktwirtschaft. Ihre Schönheit und Anmut verdankt die europäische Stadt dabei den Kräften des Ausgleichs und der Vernunft, kurzum: der erzwungenen Zivilisiertheit des Kapitalismus. Ausnahmen sind zugelassen, sofern sie diese Regel aus dem Lehrbuch der europäischen Stadtwerdung nicht in Frage stellen.
Die Geschichte von Osinów Dolny ist die von Adam Sabłotzki.
Sie beginnt 1993, nachdem die alte Geschichte von Niederwutzen, wie Osinów Dolny einmal hieß, 1945 geendet hatte. 1993 war die Oderbrücke zwischen Hohenwutzen und seiner Zwillingsgemeinde Osinów Dolny als einer der ersten neuen Grenzübergänge zwischen Deutschland und Polen für den Verkehr freigegeben worden. Seitdem ist in Osinów Dolny nichts mehr, wie es war. Aus dem verschlafenen Nest wurde über Nacht ein europäischer Handelsplatz. In die Basarstadt an der Grenze zu Deutschland kamen alle, die an eine Zukunft glaubten: Frisöre, Händler und Schmuggler aus Gryfino, Myślibórz oder Pyrzyce, Schnäppchenjäger, Frisörbesucher und Tanktouristen aus Schwedt, Eberswalde und sogar aus Berlin. Allein im Jahr der Grenzöffnung passierten 3,6 Millionen Deutsche den Übergang von Hohenwutzen.
Adam Sabłotzki hat das vorausgesehen. Schon lange vor der Eröffnung des Grenzübergangs hatte der weitsichtige Geschäftsmann das Areal hinter der Grenze gepachtet. Manche hielten ihn für verrückt, haben ihn gefragt, was er mit den Ruinen der ehemaligen Zellstofffabrik anfangen will, in der bis 1945 Sulfatzellstoff, Papiersäcke sowie Spezialwolle für die Sprengstoffindustrie hergestellt worden waren. Vielleicht hat Adam Sabłotzki nur den Kopf geschüttelt. Vielleicht hat er auch darauf hingewiesen, dass in den Laboren der 1937 erbauten „Johannismühle“ auch wissenschaftliches Neuland betreten wurde. Geforscht wurde unter anderem über die Herstellung von Textilien aus Kartoffelkraut, die Verwendung von Kok-Saghyz-Pflanzen aus der Ukraine zur Herstellung von Gummierzeugnissen und – nicht zuletzt – nach neuen Wegen zur Herstellung von Zigarettenpapier aus einheimischen Rohstoffen. Aus Nichts Gold zu machen, das hat an diesem Ort Tradition.
Dieser Pionier der Basarstadt, Adam Sabłotzki eben, hat jene Tradition wiederbelebt. Zwar wird in den Ruinen der Fabrik heute nicht mehr geforscht. Doch statt Papier gibt es nun Papierosy – Zigaretten. Das bringt Umsatz, nicht nur für Sabłotzki, sondern auch die siebenhundert Händler. Möglich wurde die Erfolgsgeschichte von Osinów Dolny, weil Sabłotzki schon vor der Eröffnung des Grenzübergangs die Zellstofffabrik vom Kriegsschutt befreit, Stromleitungen gelegt und mobile Toilettenhäuschen aufgestellt hatte. Manche in Osinów Dolny munkeln gar, dass nicht der polnische Staat die Grenzanlagen auf der polnischen Seite finanzierte, sondern Sabłotzki selbst. Das Geld habe er von deutschen und japanischen Investoren bekommen. So richtig weiß es keiner, so richtig will es auch keiner wissen, Geschäfte, die man im Grenzgebiet macht, sind auch stille Geschäfte. Und zwischen Börse und Basar sind die Wege kürzer als man denkt.
Die Gegenwart von Osinów Dolny beginnt beim Überschreiten der Grenze mit einem Staunen. Warum heißt der Basar „Odercenter Berlin“? Jerzy, ein Gemüsehändler, klärt auf: „Berlin ist nur 58 Kilometer entfernt. Aus Berlin kommt über die Hälfte der Kunden.“ So bestimmt die Wirtschaft in Osinów Dolny nicht nur das Schicksal der Basarstadt, sie gibt ihr auch den Namen.
Odercenter Berlin, das ist eine Stadt, die so gar nichts mit dem Lehrbuch der europäischen Stadtwerdung gemein haben will. Natürlich, es gibt Gassen, Straßenschilder, eine wenn auch noch bescheidene Infrastruktur, zu der ja ebenso ein Minigolfplatz gehört. Doch die Marktwirtschaft, die hier den Takt angibt, scheint dem Anfang der Geschichte der Stadt eher zu entstammen als ihrer Ankunft im 21. Jahrhundert.
Keine Geschäftsleute und Kunden stehen sich hier gegenüber, sondern Händler und Käufer. Zwischen ihnen kein Unterschied, nur die Auslage, der Marktstand. Der biegt sich unter den Waren, von Mangel keine Spur. Damenunterwäsche, Krakauer Würste, Räucherkäse, Anglerbedarf, gefälschte Levis-Jeans, Porno-DVDs, Korbwaren, vor allem aber Alkohol und Zigaretten. Alles gibt es hier und alles ist „tanie“, billig, auch wenn man nicht weiß, ob mit billig nur die Preise gemeint sind oder auch die Waren und ihre Präsentation. Doch die billige Anmutung im „product placement“ ist kein Hindernis, sie ist vielmehr das Pfund, mit dem die Basarhändler wuchern können. Zum „Vergnügen der Armen“, wie die Berliner Zeitung den Einkauf auf den Polenmärkten einmal genannt hat, gehört der Rummel, die Jahrmarktatmosphäre, so wie das Stimmenorchester auf dem Parkett der Finanzmärkte.
Basar, das ist in Osinów Dolny und den anderen Märkten an der deutsch-polnischen Grenze eine Mischung aus Schnäppchenjagd und Sonntagsausflug, eine archaische Kultur des Konsums, die, gleichwohl ärmlich, an Attraktivität nichts eingebüßt hat. Im Gegenteil: Adam Sabłotzki sei Dank, ist das Odercenter Berlin in Osinów Dolny inzwischen sogar zum Reiseziel geworden, das weit über Brandenburg und Berlin hinaus bekannt ist. So wie im schleswig-holsteinischen Sollerup. Das dort ansässige Busunternehmen Bischoff-Reisen hat „Frankfurt (Oder)-Hohenwutzen“ schon lange im Programm. Wer auf „Polenmärkte und Kurzreisen“ steht, dem winken für 72 Euro zwei Tage Schnäppchenjagd samt Übernachtung im Doppelzimmer. Der Basar als Reiseziel, das gibt es sonst nur in Kairo oder Istanbul.
Geschichten wie die von Adam Sabłotzki und des Basars von Osinów Dolny waren im Buch der Urbanistik eigentlich nicht vorgesehen. Doch seit dem Fall der Mauer gab es plötzlich nicht mehr nur Städte wie Siena, München oder Strasbourg, sondern auch urbane Zumutungen wie Bukarest, Warschau oder Kiew. Und das war längst nicht alles. Zu den neuen Stadttypen gehörten auch die zahllosen Basare, die in und um die Metropolen Osteuropas und an der deutsch-polnischen Grenze entstanden waren. Die von der italienischen Piazza und dem französischen Bouleplatz verwöhnten Urbanisten waren erschrocken. Sollte am „Ende der Geschichte“ die Geschichte der Stadt wieder von vorne beginnen?
Doch bald schon kam Entwarnung. Alles nur eine vorübergehende Erscheinung, riefen die Urbanisten, und einer ihrer Wortführer, der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, prophezeite schon im November 1996 ein „Comeback der Städte“. „Wer derzeit in den Städten des östlichen und mittleren Europas unterwegs ist“, gab sich Schlögel zukunftsfroh, „traut seinen Augen nicht. In Riga werden die Jugendstilviertel renoviert, die Altstadt ist schon fertig, das Schwarzhäupterhaus, von dem nichts geblieben war, wird derzeit wieder aufgebaut.“ Man könnte, so Schlögel, noch weitere Beispiele anführen: „Den Boom in Breslau und Posen, den neuen Glanz in den Wolgastädten, sogar Kaliningrad, jene Stadt ohne Zentrum, die mit der Wiederherstellung des Königsberger Doms begonnen hat.“
„Alles hat sich verändert“, so Schlögel begeistert, „der Rhythmus, die Lebens- und Umgangsformen, die Schaufenster. Wir sind Zeugen der Wiedergeburt des Cafés, der städtischen Tugenden wie Distanz und Höflichkeit, des schamlosen Elends und Verbrechens. Die größte Sehenswürdigkeit, die man derzeit in den östlichen Städten besichtigen kann, ist: das Ende der Stadt als staatlicher Veranstaltung, die Wiedergeburt der Stadt der Bürgerschaft.“
Jene, die wegen der urbanen Wüsten, gestaltlosen Stadtagglomerationen und des wilden Markttreibens in Sorge geraten waren, atmeten spürbar auf. Die Geschichte der europäischen Stadt musste nicht nur nicht umgeschrieben werden. Sie ging sogar weiter und würde, als Erfolgsmodell, nach Osteuropa exportiert werden. Was galt gegen solcherlei Zukunftsaussicht da schon die andere Geschichte, die von Osinów Dolny?
In etwa zur gleichen Zeit, in der Karl Schlögel das „Comeback der Städte“ feierte, leistete Elisabeth Lichtenberger Trauerarbeit. Bei ihren zahlreichen Forschungsaufenthalten in Budapest hatte die inzwischen emeritierte Professorin für Geografie an der Universität Wien festgestellt: „Der politische Systemwechsel hat auch alle Parameter der Stadtentwicklung verändert.“ Die Privatisierung auf dem Wohnungsmarkt „hat zu einer weiteren Akzentuierung der Slumbildung geführt“.
„Während im kommunistischen System“, so Lichtenberger weiter, „diese Slumbildung noch keineswegs mit sozialen Desintegrationserscheinungen verbunden war, beginnen unter kapitalistischen Vorzeichen die Phänomene der sozialen Desintegration um sich zu greifen, es öffnet sich die Schere in den Einkommensverhältnissen.“
Sollten die Schattenseiten des Exportmodells „Europäische Stadt“ östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs doch deutlicher hervortreten als im westlichen Teil des Kontinents? War die „Transformation“ doch plötzlich kein zielgerichteter Wandel von der Plan- zur Marktwirtschaft, sondern eine Bewegung, die im Übergang stecken blieb? Sollte das „schamlose Elend“, von dem Karl Schlögel sprach, nunmehr wie ein Menetekel über der „Wiedergeburt der städtischen Tugenden von Distanz und Höflichkeit“ stehen?
Elisabeth Lichtenberger hat sich in ihren Beobachtungen in Budapest vor allem auf den Weg in den achten Bezirk gemacht, in die Josefstadt, das ehemalige jüdische Viertel von Budapest. Hier, unmittelbar neben der City, stoßen die sozialen Kontraste hart aufeinander. „Der achte Bezirk ist nahezu zur Gänze zu einem Slumbezirk geworden. Während in anderen Städten wie zum Beispiel in Wien gegenwärtig eine Stadtwanderung einer neuen City-Bevölkerung erfolgt und eine bauliche Aufwertung beobachtet werden kann, scheint der Stadtverfall in Budapest derzeit im Osten der City ein unaufhaltsamer Prozess zu sein. Die erschreckende Tatsache einer ‚zentralen Armut‘ erinnert an nordamerikanische Verhältnisse.“
Im achten Bezirk gibt es aber nicht nur Verfall, es ist auch Neues entstanden, zum Beispiel an der Kobanyai utca, unweit des Josefstädter Bahnhofs. Hier hat sich seit Mitte der Neunzigerjahre ein gigantischer Basar entwickelt. Anders als auf den großen osteuropäischen Basaren in Warschau, Moskau, Odessa, Łódź oder Czernowitz wird der aber nicht von Russen, Ukrainern, Weißrussen und Vietnamesen dominiert, sondern von Einwanderern aus China. Zwischen dreißigtausend und sechzigtausend von ihnen sind nach der Aufhebung der Visumspflicht für Chinesen und wegen der niedrigen Steuersätze für Gewerbetreibende nach Budapest gekommen. Auch in Ungarns Hauptstadt hat sich ein Zentrum der Überlebensökonomie etabliert. Ein Basar im Schatten der Börse, der zeigt, dass sich der Kapitalismus so rasch über Grenzen hinwegsetzt wie die Geldströme der Finanzmärkte oder der Expansionsdrang der Global Player. „Wenn unsere Kunden für Handtücher eine andere Farbe wünschen“, sagt eine Händlerin am Josefstädter Bahnhof, „dann wird in der chinesischen Provinz, aus der wir die Waren beziehen, die Produktion sofort umgestellt.“
Während der letzten Jahre ist viel geschrieben worden über die Geschichte der Stadt, ihre Auflösung ins Global Village oder die Rückkehr ihrer Urbanität, auch über ihre neuen Ränder, die man, je nach dem, als Nonstädte begreifen kann, als Zwischenstädte oder als Kerne neuer Urbanisierung.
Die „informelle Stadt“ aber, die sich am Josefstädter Bahnhof in Budapest oder im Odercenter Berlin in Osinów Dolny zeigt, ist erst seit einiger Zeit in den Blick der Urbanisten gerückt. Noch immer ruft sie Unbehagen hervor, wird als Bedrohung für die westliche Zivilisation empfunden. Mitunter scheint es gar, als wäre aus der „Kultur des Kapitalismus“, dort, wo er unverkennbar ärmlich und zügellos daherkommt, auf den Basaren Osteuropas, den Märkten der Autoschieber, den Treffs der Schmuggler, plötzlich eine Unkultur geworden, eine barbarische Spielart der Marktwirtschaft, vor der es deren zivile Stammlande zu schützen gilt.
Aber folgen Basar und Börse nicht denselben Regeln? Ist die europäische Stadt der durch Ausgleich und Vernunft zivilisierten Marktwirtschaft inzwischen nicht auch barbarisch geworden? Hat die informelle Stadt nicht längst den Westen erreicht?
Diesen Fragen stellte sich Ende des vergangenen Jahres eine Ausstellung in den Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin. „Learning From?“ war ihr Titel, versehen mit einem Fragezeichen. Es waren andere Bilder als die von Karl Schlögel, die hier gezeigt wurden. Europäische Stadt, das waren nicht nur das Schwarzhäupterhaus in Riga oder das prächtige Parlamentsgebäude in Budapest. Europäische Stadt, das waren in den Räumen der NGBK auch die polnischen Pendelmigranten in Berlin, die Bewohner der Gecekondus in Istanbul, die Russlanddeutschen in Marzahn und immer wieder die „Ameisen“, die Kleinschmuggler, die „Kofferhändler“.
Die informelle Stadt, sie war, anders als in den Lehrbüchern der europäischen Stadt, in den Räumen der NGBK tatsächlich angekommen. Und wer genau hinsah, sah sie auch, wenn er die Ausstellungsräume verließ, in der Kreuzberger Oranienstraße. Zum Beispiel im Phone-Shop an der Adalbertstraße, wo nicht nur Türken billig in die alte Heimat telefonieren und auch Geschäfte abwickeln können, sondern auch Polen, Kroaten, Russen, Ukrainer.
Gleichzeitig war die informelle Stadt aber auch in der NGBK ideologischem Verdacht ausgesetzt. Im Eingangsessay des Ausstellungskatalogs beschrieben die Altlinken Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf das rasante Wachstum des informellen Sektors in den europäischen Städten nicht nur als „Schwamm für all jene Arbeitskräfte, die in der Folge des globalen Standortwettbewerbs überflüssig geworden sind“. Der informelle Sektor, so Altvater und Mahnkopf weiter, stellt auch einen „Schockabsorber der Globalisierung dar, weil er erstens der Subsistenzsicherung der urbanen Haushalte dient. […] Zweitens trägt der informelle Sektor zu einer faktischen Lösung der Arbeitsmarktkrise bei.“ Altvaters und Mahnkopfs Fazit: „Der informelle Sektor ist Ausdruck eines ‚Neoliberalismus von unten‘.“
Sind die ostdeutschen Bewohner des Grenzgebiets, die aufgrund ihrer sozialen Lage gezwungen sind, auf den Billigmärkten in Polen einzukaufen, wie die Händler auf diesen Märkten nicht nur Opfer des „neoliberalen Projekts“, sondern auch dessen Akteure? Denkt man Altvater und Mahnkopf zu Ende, müsste man das Lehrbuch der europäischen Städte und ihrer so auseinander laufenden Entwicklung nicht erneuern. Man müsste es vielmehr zuschlagen und am besten gleich einen neuen Eisernen Vorhang bauen. Auch Kapitalismuskritik, so fortschrittlich sie auch daherkommen mag, endet nicht selten in einer Haltung der Abschottung, der Verteidigung nationaler sozialer Standards gegenüber dem vermeintlichen Ansturm der Barbaren.
Man kann den Kapitalismus der Armen, statt ihn als „Neoliberalismus von unten“ zu verdammen, aber auch anders sehen: als Sicherung der Existenz, wo andere Sicherungssysteme nicht mehr existieren oder nie existiert haben. „Capitalism without capitalists“ nennen die amerikanischen Soziologen Gil Eyal, Iván Szelényi und Eleanor Townsley deshalb diese Form von Überlebensökonomie.
Und dieser Kapitalismus ohne Kapitalisten, der Kapitalismus der Habenichtse, Schmuggler, Arbeitslosen und Schnäppchenjäger schreitet voran, nicht nur in Osteuropa, sondern auch an der deutsch-polnischen Grenze. Aller Theorie der Transformation zum Trotz, hat die polnische Wirtschaftswissenschaftlerin Marzenna Guz-Vetter festgestellt, leben im polnischen Grenzgebiet zu Deutschland noch immer mehrere Hunderttausend Menschen vom Grenzhandel. „Zwanzig Prozent der Bewohner“, so Guz-Vetter, „sichern ihre Existenz alleine durch illegale Tätigkeit, darunter vor allem Alkohol-, Zigaretten-, Menschen- und Autoschmuggel.“ Ein großer Teil der im Grenzgebiet ansässigen Dienstleistungsunternehmen, so Guz-Vetter, lebe von illegalen Jobs: Fälschung von Autonummern, Montieren versteckter Behälter für Schmuggelwaren, Neulackierung gestohlener Fahrzeuge.
Im Grenzgebiet macht sich darüber hinaus noch ein weiteres Erbe des Basars bemerkbar – die Symbiose von Basar und Stadt. Wie eine Gruppe von Soziologen unter der Leitung von Jacek Kurzępa an der Universität von Zielona Góra herausfand, hat die jahrelange Schatten- und Schmuggelwirtschaft entlang der Grenze zu tief greifenden Veränderungen in den sozialen Strukturen und Verhaltensweisen der Grenzbewohner geführt. Ehemalige Kriminelle, die sich jahrelang durch Diebstähle und Schmuggel bereichert hätten, seien nun zunehmend im small business oder in Verwaltungsstrukturen anzufinden, wo sie ihre alten Verbindungen weiter pflegten.
Die Geschichte der Stadt ist, so müsste man ins Lehrbuch schreiben, auch die Geschichte der wundersamen Mehrung der vormodernen Form des Kapitalismus, in dem Stadtväter und Markthändler Teil ein und derselben Kultur sind. In Osinów Dolny jedenfalls hat der Nachfolger von Adam Sabłotzki die Zeichen der Zeit erkannt. Das Corporate Design des Odercenter Berlin ist nicht mehr nur in der ehemaligen Zellstofffabrik von Niederwutzen zu finden, sondern auch im weltweiten Netz: www.hohenwutzen.de. Bei so viel Übereinstimmung zwischen einer deutschen Gemeinde und einem polnischen Basarbetreiber wird die Firma Bischoff-Reisen wohl noch lange die „Destination Polenmarkt“ ansteuern.
UWE RADA, 1963, ist taz-Redakteur und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Osteuropa. Sein neues Buch „Zwischenland. Europäische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet“ erscheint im Februar im Berliner be.bra-Verlag, 256 Seiten, 19,90 Euro