: In uns liegt etwas brach
Langeweile kennen alle. Und leiden unter ihr entsetzlich. Zur Anatomie und Sprengkraft eines Schatten spendenden Lebensgefühls. Ein Essay
von ROBERT MISIK
„Wenn alles so weitergeht, wird man an Langeweile zugrunde gehen … wo ‚nichts los ist‘, kann man nicht leben.“
Bertolt Brecht
Der alte Herr ist auf seltsame Weise schön, nichts an ihm ist berserkerhaft. Der gesamte Körperbau, die Arme, die Finger – fein. Sein Lächeln ist gewinnend, weil es so scheu ist. Alles an ihm strahlt aus: Freundlichkeit. Nichts: leidenschaftliche Militanz.
Ausgerechnet dieser Mann, Toni Negri, ist gleichsam ein Theoretiker der Leidenschaft. „Tatsächlich habe ich die größte Angst davor, ohne Leidenschaft zu sein“, hat er jüngst in einem Interview zu Protokoll gegeben. Dabei ist von einer Leidenschaft die Rede, die zur Tat drängt: „Die Gemeinsamkeit“, sagt Negri, dieser gefeierte Renovateur des Linksradikalismus, „produziert die Tat. Sie erwächst aus einer Art metaphysischer Kooperation, aus einem wechselseitigen Elan, einer realen Öffnung.“
Leidenschaft, Tat, Handeln, Elan – Wörter, ja Chiffre für ein Hineinspringen in das eherne Gehäuse des Weiter-So: Gegenvokabeln. Zur Langeweile eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem der Einzelne sich nur noch von unbeeinflussbaren Mächten umzingelt sieht. Tatsächlich lässt sich alle Geschichte der Radikalität auch schreiben als der infinite Versuch, dieser Langeweile zu entfliehen.
Viele haben versucht, ein Loblied auf die Langeweile anzustimmen. Tatsächlich ist ein solcher Zustand sozialer und historischer Langweile, verglichen mit manchen seiner Alternativen, nicht das größte aller Übel. Man könnte die Langeweile eines sich ruhig, stets aufs Neue reproduzierenden, global prosperierenden Gemein- und Wirtschaftswesens, das alle und jeden mit einer Art Kuscheldecke umgibt, getragen von dem Versprechen, dass böse Überraschungen uns nicht mehr bevorstehen, vielen Eruptionen der Leidenschaften und Irrationalitäten getrost vorziehen.
Und ist nicht Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“, von vielen zur Affirmation des Gegebenen banalisiert, der Versuch eines selbst schon wieder heroischen Bekenntnisses zum Ende der Überraschungen, zum Glück der leeren Zeit? Natürlich ist sie das, und Fukuyama hat selbst hellsichtig die Aporien dieses zweifelhaften Glückszustandes benannt, hat er doch früh schon darauf hingewiesen, das Ende der Geschichte werde eine „traurige Zeit“ sein. Eine, in der selbst die Rebellionen gegen das Gegebene zur Stabilisierung des Gegebenen beitragen werden; eine Zeit, in der die Einwände schriller werden, nur um den Beweis zu führen, dass es doch noch Exzesse geben kann. „Vielleicht“, so Fukuyama, „wird die Aussicht auf Jahrhunderte der Langeweile dazu führen, dass die Geschichte wieder beginnt.“
So ist das Paradoxon der Langeweile die Sprengkraft selbst, die in ihr liegt – eine „entsetzliche Vernichtungskraft, nur um diesen Zustand zu überwinden“, wie der Autor Michael Köhlmeier formulierte. Geradezu Abwechslung fordert sie, wie Wolfgang Sofsky in seinem „Traktat über die Gewalt“ schrieb: „So bringt die Gewohnheit das Gegenteil ihrer selbst hervor.“ Das ist nichts Neues. Nicht wenige waren bereit, einen Weltkrieg in Kauf zu nehmen, um diese Empfindung der Ödnis loszuwerden.
Die Kriegszugeneigtheit einer ganzen Generation in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs lässt sich nicht anders erklären. „Betrieb muss sein“, schrieb der spätere Texter der DDR-Hymne („Auferstanden aus Ruinen“) Johannes R. Becher in jener Zeit, „damit man nicht in der Langeweile erstickt. Und so wird Betrieb gemacht: Krieg geführt, Frieden geschlossen, gebaut, zerstört.“ Ernst Jüngers Stahlgewitterprosa entstammt der gleichen Atmosphäre wie auch Hugo von Hofmannsthals Jubel auf einen fällig gewordenen Reinigungs- und Klärungsprozess – „das Unwahre ist unerträglich, aber das scheinbar Geringe wird gewichtiger, das einfach Menschenhafte, das Elementare besteht glorreich“.
„Das Elementare“ – noch so eine Vokabel. In ihr wird das Echte, das sich erst in der Gefahr erweist und nur im Ausnahmezustand zu seinem Recht kommen kann, das Leben mithin in Stellung gebracht gegen die verwaltete Welt. Da tritt „das Unbekannte, das Außerordentliche, das Gefährliche“ (Jünger) gegen die Ödnis des Gewöhnlichen an. Da gibt es nur Verachtung für die bürgerliche Moderne und deren „umfassenden Aufbau eines Versicherungssystems, durch das … das Risiko des privaten Lebens gleichmäßig verteilt und damit der Vernunft unterstellt werden soll – in Bestrebungen, in denen man das Schicksal durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzulösen sucht“.
Siebzig Jahre später sagte Frank Castorf fast wortgleich: „Heute leben wir in einer Welt der Spalt-Schmerzstill-Tabletten, wichtig ist, die Rentenversicherung mit achtzehn abzuschließen“, spöttelte der Theatermacher vor einigen Jahren in einem Interview, das einen Skandal lostrat, weil er sich angesichts dieser Fadesse wünschte, dass „ein neues Stahlgewitter“ ausbricht oder dass „die Hunnen kommen oder der Amazonas uns überschwemmt“. Ähnlich mokierte sich Régis Debray, der französische Philosoph und einstige Ché-Guevara-Mitstreiter, über die „helvetisierten Europäer“, die unfähig seien zur Politik, weil sie unfähig sind zur höchsten aller Entscheidungen, dem Menschenopfer: „Ich gebe nicht viel auf eine politische Kultur, die nicht zugleich auch eine Kultur des Krieges ist.“
Moderne liberale Politik lässt sich ohne große rhetorische Übungen als der Versuch interpretieren, die Leidenschaften aus der Späre des Politischen zu bannen – dies ist der Gehalt allen demokratischen Pragmatismus. Und gleichzeitig dessen Dilemma: Denn sie produziert damit ein Verlustgefühl – und zugleich alle Versuche, aufs Neue Leidenschaften in die Politik zu investieren. Rechte Wiedergänger, Jörg Haider etwa, verdanken ihren Aufstieg diesem Umstand, ebenso wie der Glanz mancher linker Theoretiker auf dem bloßen Versuch beruht, die Fäden der Ödnis zu zerreißen.
So fragte der Philosoph Slavo Žižek, ob es nicht trotz der Fähigkeit des postmodernen Kapitalismus, alle Widersprüche zu integrieren, alle Provokationen sich produktiv einzuverleiben, noch Übertretungen gibt, die das System zum Wanken bringen könnten: „Vielleicht“, formulierte er in seinen Gedanken über „die heutigen Chancen radikaler Politik“, „sollte man in diesen langweiligen Zeiten um sich greifender Rufe nach Toleranz das Risiko eingehen, sich die befreiende Dimension solcher ‚Exzesse‘ in Erinnerung zu rufen“.
Noch die grassierende Che-Guevara-Nostalgie wie auch die erstaunlichen Debatten um den „Mythos RAF“ lassen sich als Reminiszenzen an das abenteuerliche Herz lesen. Sie bieten Thrill, wenn auch aus zweiter Hand, und sind trotzdem von einer gewissermaßen unbewussten, dafür umso eminenteren Wahrheit, standen doch Lebensgier und Abenteuerlust – die übrigens nur die andere Seite der Todessehnsucht sind – schon an ihrem Ursprung.
Als Che Guevara, damals ein blutjunger Tramp, der vom Kommunismus noch nicht viel gehört hatte, in Guatemala-Stadt Zeuge des US-unterstützten Putsches gegen die linke Regierung wurde, notierte er in sein Tagebuch: „Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es mir großen Spaß machte … Ein leichtes Bombardement ist erhebend.“
Unstillbare Sehnsucht, das Kontinuum der leeren Zeit aufzusprengen: Diese Aspirationen sind in der westlichen, auf judäo-christlichen Traditionen beruhenden Welt leicht auszumachen. Eine messianische Erinnerungsspur, wie unbewusst auch immer, die auf seltsamste Weise zutage treten mag.
Auf die wies schon Walter Benjamin in der berühmten Anekdote aus seinen geschichtsphilosophischen Thesen hin: So hat sich in der Pariser Julirevolution von 1830 ein Zwischenfall „zugetragen, in dem dieses Bewusstsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, dass an mehreren Stellen von Paris unabhängig von einander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.“
So sind die Lobreden auf die Langeweile merkwürdig schal, sind sie doch der Versuch, den Umstand wegzureden, der nicht weggeredet werden kann: Dass die Empfindung der homogen Zeit das Bedürfnis weckt, aus ihr auszubrechen; der Drang zum Kick wächst, wird zum Zwang, zur Sucht.
Die Brache der Leidenschaft ist der Humus, auf der Leidenschaften gedeihen. Natürlich erweist sich darin das Private als politisch, wenngleich auch in grotesker Weise. In aller politischer Radikalität steckt auch das Moment, die Vorstellung des Sich-Neu-Erfindens, dieses Alle-Brücken-hinter-sich-Abbrechen, das seit jeher eine solch starke Anziehungskraft hat. Auch dies ein Sentiment mit Geschichte, was schon die Begriffe beweisen, die wir dafür zur Verfügung haben: „Wiedergeburt“, „eine neue Zeitrechnung beginnen“.
Ausbruchsfantasien, die politisch maskiert auftreten oder privat versucht werden können. Neulich trat im Fernsehen ein Heiratsschwindler auf, dem es gelungen war, Damen für sich einzunehmen. Gefragt, wie er das geschafft habe, antwortete der Mann: „Ich sagte ihnen: ,In dir liegt etwas brach.‘ Das kann man jeder Frau sagen. Jede Frau über 35 hat das Gefühl, in ihr liegt etwas brach.“ Bei Männern verhält es sich wohl nicht viel anders.
Wer kennt sie nicht, diese objektlose Spannkraft bei Menschen um die fünfzig, die sich in Reminiszenzen gegenüber den Abenteuern der eigenen Jugend ebenso ausdrückt wie in Wehmut, dem Gefühl, alles Erreichte sei im Grunde nichts, es müsse etwas anderes – das Große, das Andere – her: wenigstens ein neues Leben, eine neue Welt.
Die einen lassen Job, Familie und ihr altes Leben hinter sich, um der Routine zu fliehen, andere wollen einen Weltkrieg entfesseln, wieder andere die Welt aus den Angeln heben. Wer wollte da noch ein Lob auf die Langeweile singen? Noch in der Kritik am Radical Chic ist die nervöse Irritation fühlbar, jene frappante Verleugnung der Macht solcher Ausbruchsfantasien, die eine jener Arten von Verneinung ist, von der wir seit Sigmund Freuds Tagen wissen, dass sie eigentlich eine Bejahung ist.
Ist es nur Zufall, dass die vehementeste Abwehr gegen radikalere Aufwallungen von Männern – meist höheren Angestellten – kommen, denen man schon am Zucken der Mundwinkel ansieht, wie unglücklich sie sind?
Die Eruption der Leidenschaften ist nur die Kehrseite der Langeweile. Dies gilt auch und zuvorderst für die politischen Leidenschaften. Gegen die falschen Propheten der Fadesse gilt es auf der Macht der Leidenschaften zu insistieren; und vor allem gilt, dies leidenschaftlich zu tun.
ROBERT MISIK, 38, lebt als Autor in Wien und schreibt regelmäßig für die taz. Jüngste Buchveröffentlichung: „Marx für Eilige“, Aufbau-Verlag, Berlin 2003, 176 Seiten, 7,95 Euro