: Die Pilgerstätte des Grauens
AUS VOSSENACKBERND MÜLLENDER
Das Frühjoggen der Gäste um halb sechs ist schon lange her. Ihr erster interner Vortrag über Kriegsmedizin auch. Jack Freedman, der überraschende Besucher, wird erst in einigen Stunden auftauchen – in diesen Minuten steht der alte Mann noch am Kölner Dom, auf den „gleichen Stufen wie in den Trümmern im Frühjahr 45“ – wie er noch bewegt berichten wird. Und am Abend werden sich sogar noch zwei der hohen US-Offiziere ein französisches Bett teilen müssen. Es wird ein selten ereignisreicher Tag im Eifelnest Vossenack.
Jetzt ist es 9 Uhr 30. Zwei Dutzend US-Besucher haben sich auf dem Parkplatz neben dem Hotel „Zum Alten Forsthaus“ versammelt. Recht frisch ist es hier oben und dunstig, wie so oft in der Nordeifel. Alle haben Anoraks angezogen und wollen loswandern in den Hürtgenwald. Doch erst gibt es „wichtige Sicherheitshinweise“. Man möge, sagt der Reiseleiter, „bitte gemeinsam auf einer Straßenseite gehen und zusammenbleiben, damit keiner verloren geht“.
Die banale Warnung hat eine bizarre Note. Hürtgenwald ist tatsächlich einmal grauenvoll gefährlich gewesen, vor allem für Amerikaner. Hier oben ließen 55.000 GIs bei der „Schlacht im Hürtgenwald“ im Winter 1944/45 innerhalb weniger Wochen ihr Leben, so viele wie im ganzen Vietnamkrieg, der über zehn Jahre dauerte. Es war das größte Desaster in der Geschichte der US-Army, und das inmitten der so erfolgreichen Invasion gegen Hitler-Deutschland.
Die Gruppe stapft los, um „eine Idee zu kriegen vom Battlefield im Hurtgen Forest“, wie Gruppenleiter John Taber sagt, Oberstleutnant und Veterinär bei der Sanitätsbrigade Heidelberg. Ihm folgt die medizinische Führung der US-Streitkräfte in Europa: Divisionsärzte, Brigadekommandeure, Sanitätspersonal, Kriegshistoriker, der Logistikchef der US-Krankenhäuser in Europa. Sie sind auf kriegsgeschichtlichem Fortbildungsausflug.
15 Minuten später steht Taber mitten im Wald im Laubbett eines alten deutschen Verteidigungsgrabens und erzählt vom „miracle in the west“. Wie die US-Truppen hier, rund 30 Kilometer südöstlich von Aachen, stecken blieben beim Marsch zum Rhein. Selbst für Eifelverhältnisse herrschte wochenlang ein besonders grausiges Wetter. „Regen, Schnee, Sturm ununterbrochen. Alles war knietief verschlammt“. Der 50-Jährige rudert mit den Armen und vergleicht das „unerwartet heftige Feindfeuer“ mit Spielszenen des American Football. „Alles“, sagt Taber, sei „in diesen Wäldern des Horrors wochenlang absolutely chaosed“ gewesen. „So etwas hatten US-Truppen noch nicht erlebt.“ Die Verluste waren enorm. „They didn’t have Goretex“, lässt sich Taber zu einem Witz hinreißen.
Doch es lag nicht allein an der Ausrüstung. Auch die Versorgung klappte nicht. Der Funkverkehr brach zusammen. Viele tausend Soldaten starben elend an Hunger und Kälte. Doch es war nicht der unerwartete Frost und der überraschend konzentrierte Widerstand der Restwehrmacht. Es war vor allem ein unverzeihlicher strategischer Fehler, durch das unwegsame und unterschätzte Eifelgelände vorzurücken, statt über das flache Rheinland nebenan, sagen Historiker heute.
Am Ende blieben nach vier Monaten zusammen 70.000 Tote in der Nordeifel zurück. Noch viele Jahre danach sah das zerschossene, niedergebrannte und völlig verwüstete Stück Land aus wie ein Meer aus abgeknickten Streichholzstümpfen. Noch heute verweigern Schreinereien Holz aus Hürtgenwald: Zu gefährlich, weil es bisweilen noch voller Granatsplitter ist. Noch heute müssen bei jedem Neubau in der Gemeinde zuerst Minensucher ran – eine Hamburger Firma hat im Dorf Vossenack eine Dependance. Und neulich noch „haben Bauarbeiter in einem Vorgarten eine amerikanische Kriegsleiche ausgebuddelt“, erzählt der Vossenacker Hotelier Reiner Gübbels.
Der 51-Jährige führt seit 1974 das Alte Forsthaus. Seit einigen Jahren, berichtet er, kommen alle paar Wochen US-Veteranen oder Angehörige aus den USA auf Besuch; manchmal machten „ganze Busladungen voll“ bei Europatrips in seiner gutbürgerlichen 3-Sterne-Bleibe mit dem wuchtigem dunklem Mobiliar und den Zwölfendern an der Wand Halt. Und immer wieder seien, erzählt Gübbels, Gruppen aktiver Soldaten zu Gast. „Hürtgenwald steht bei der US-Armee heute noch auf dem Reißbrett. Die können sich immer noch nicht erklären, warum sie hier noch so einen drüber gekriegt haben.“
Thema der Medizinergruppe sind heute vornehmlich die damaligen Rettungseinsätze. Taber führt von der Pfarrkirche Vossenack – „zeitweilig ist die Frontlinie in der Kirche vertikal verlaufen; unten saßen die Deutschen, oben im Glockenturm unsere Leute“ – herunter ins Kalltal mit seinen teuflisch steilen Einschnitten. Hier haben sich die schlimmsten Dramen abgespielt, „Tank auf Tank“ war, wie Taber erläutert, im Schlamm stecken geblieben, die US-Armee aufgerieben, in der Falle, Zielscheibe. Das hieß Nahkampf über Wochen, pausenloser Artillerie- und Granatwerferbeschuss der Wehrmacht, die Hänge übersät mit Leichen. Ein Konzentrat des Grauens: „Stellungskrieg im ursprünglichsten Sinn“, sagt Taber.
Die Wanderer erreichen den Platz der ehemaligen „Kall Trail Aid Station“. Die Offiziere klettern den Berg ein Stück hoch und machen Fotos. Hier waren einst die Rettungstruppen im Einsatz. Einmal wurde extra eine Feuerpause eingelegt, damit Sanitäter beider Seiten gemeinsam Opfer vom Schlachtfeld schleppen konnten. Berühmt in US-Medizinerkreisen ist das Gemälde „Time for Healing“, das den todesmutigen Einsatz der Rettungskräfte heroisiert. „Das Bild hat jeder von uns zu Hause“, sagt Taber. Auch im kleinen Vossenacker Friedensmuseum hängt eine Kopie.
Im Hotel sitzt am Mittag plötzlich Jack Freedman am Tisch. Er ist 77 und stammt aus Huntsville, Alabama. Er ist eben angekommen, unangekündigt, ohne Reservierung. Nach fast 60 Jahren sei er das erste Mal wieder „in Wosnic“, wie er sagt. Mitte November 44 war er „hierher verlegt worden, als Ersatz, you know“. Ersatz hieß Kanonenfutter. Sechs lange Wochen war der 18-Jährige da. Der wache alte Mann schüttelt den Kopf. Man merkt, wie er sein Leben sortiert: „Die Wälder, dieser Hunger, die Kälte. Uns sind beim Waschen die Augenbrauen eingefroren. Und all die Toten überall. Wissen Sie, dieses Wosnic war ein Schlüsselwort in meinem Herzen mein ganzes Leben lang. Wosnic, Germany.“
Und Jack Freedman erzählt von diesem Leben. Dass er als Ingenieur am Apollo-Programm mitgearbeitet hat. Und ein halbes Jahrhundert lang „Wosnic“ gesucht habe in Atlanten, auf Karten. „Ich dachte das heißt so. Ich wusste nur, es war bei Cologne und Düren, irgendwo.“ Die Tochter hätte dann Vossenack im Internet gefunden. „Warum ich damals eigentlich hier war? Loyalty for my country? – Pah!“ Für einen Amerikaner eine fast vaterlandsverräterische Bemerkung.
Auch Ernest Hemingway, damals als Frontberichterstatter dabei, hat die blutige Eifelschlacht beschrieben. Im Roman „Über den Fluss und in die Wälder“ berichtet er von der Wehrmacht, die „mit ihren Mörsern alles zu Klump hämmerte“ und von hochnäsigen Generälen, die immer mehr GIs „stur wie Maultiere in die Hölle“ führten, wo es „Pferdescheiße satt“ zu essen gab, „bis man schwer verwundet ist oder getötet wird oder verrückt“. Aber Hemingway beobachtete nicht nur: „Einmal habe ich einen besonders frechen SS-Kraut umgelegt. Ich schoß ihm dreimal schnell in den Bauch und in den Schädel, so dass ihm das Gehirn aus dem Mund kam, oder aus der Nase, glaube ich.“
Der tunesische Barchef im Alten Forsthaus, berichtet Chefkellner Eugen de Kinder, habe neulich mitbekommen, dass einer der US-Gäste „perfekt Arabisch sprach und direkt aus Kuwait angereist war“. Kuwait, Irak: Ob die Amerikaner aus den verlustreichen Fehlern für kommende Aufgaben etwas lernen wollen? Birgt Vossenack strategische Erkenntnisse gegen die Achse des Bösen? John Taber bejaht sehr allgemein: „Natürlich lernen wir hier. Dass man planen kann, was man will. Aber, you never know, es wird immer Situationen geben, wo man immer neu improvisieren muss.“ Demnächst will Taber eine andere Gruppe nach Vossenack führen, „alles junior officers“.
Am Nachmittag steht das Friedensmuseum auf dem Plan der Besucher. Freedman, der Zeitzeuge, ist ein echter Glücksfall für die US-Offiziere. Sie fragen ihn nach Sanitätern und Ärzten im Krieg. „Oh, we loved the medics.“ Die Mediziner lächeln: Das Lob ist wie ein kleiner Orden für das in den USA gern verdrängte Eifel-Waterloo ihrer Armee. „Immer wieder“, fährt Freedman fort, „schrie einer irgendwo: ‚Medics to the front. Medics to the front.‘ Wir …“, Freedman bricht in Tränen aus. Betreten sehen die Offiziere zu Boden. Jack Freedman hatte nach langer Zeit nur mal vorsichtig gucken wollen. Jetzt steht der Veteran da und heult.
Besonders bedrückt steht Oberst Johnny West vor den blassen Schwarz-Weiß-Fotografien und Dokumenten der Todesfabrik Hürtgenwald. Sein Vater habe damals mit Glück überlebt, sagt er. „Er wollte aber nie davon erzählen, zu grausam, zu schmerzhaft“ seien die Erinnerungen gewesen, und „never-ever wollte er noch mal zurück“. Was wird er ihm jetzt berichten? „Dad ist im November gestorben. Aber ich würde ihm sagen“, West zögert einen Moment: „Ich bin sehr stolz auf ihn, dass er das hier durchgestanden hat.“
Am Abend ist Jack Freedman von seiner Wanderung in die Vergangenheit zurück. John Taber hatte ihm die Wege gezeigt und Freedman hat „viele Stellen wiedererkannt“. „Auch diese Kirche, die war damals ja nur noch ein Stumpf.“ Es sei „so moving“ gewesen, sagt der alte Mann, „moving, just moving“ – einfach bewegend.
Nein, weiterfahren will Freedman heute nicht mehr. Er fragt nach einem Zimmer. Sorry, sagt Hotelier Gübbels, man sei restlos ausgebucht. Schulterzucken. Zwei Oberste bekommen Wind vom Problem, räumen ein Zimmer und teilen sich kurzerhand ein Doppelbett. Eine schöne Geste. „Ich hätte es nicht gewagt, so ein Angebot abzulehnen“, sagt Freedman beim Abendessen. Die Hotelchefin sieht es pragmatisch: „In der Kaserne schlafen die doch auch immer zusammen auf einer Stube.“
Alles ist gut, in diesem fürchterlichen Wosnic an diesem friedlichen Abend.