: Drohender Absturz
betr.: „Noch ist Ruhe Bürgerpflicht“ von P. Nolte, taz vom 31. 12. 03
Es scheint in der taz Mode geworden zu sein, den eigenen LeserInnen einzuhämmern, dass es ihnen doch prima gehe. Leider wird diese Behauptung auch durch stete Wiederholung nicht wahrer. Paul Nolte verdient als Professor wahrscheinlich 4.000 Euro netto pro Monat, bezahlt als Angestellter im öffentlichen Dienst weniger für die Autoversicherung und kann seine Zeit freier einteilen als so mancher Software-Ingenieur oder Klempner. Er und all die anderen fleißigen SchreiberInnen, die immer über die faul gewordene Mittelschicht herziehen, sollten sich aus der Fiktion der Statistiken einmal in die Realität des Alltags begeben und Menschen fragen, wie es ihnen tatsächlich geht.
Da sieht es nämlich gar nicht gemütlich aus. In Deutschland gibt es mittlerweile ganz reguläre 40-Stunden-Jobs, für die kalt lächelnd 500 Euro pro Monat bezahlt werden. Wer meckert, fliegt raus. 800 bis 1.000 Euro gelten vielerorts schon als großartig. Auch AkademikerInnen nehmen diese Jobs zum Teil an, weil sie keine Alternative haben. Wenn ein Facharbeiter mit 1.400 Euro netto nach Hause geht, ist er vergleichsweise gut dran. Ich habe Freunde, die als Ingenieure 1.600 Euro netto verdienen und die ihre sechs Wochen Jahresurlaub schon lange nicht mehr nehmen. Sie sind froh, wenn der Chef sie für drei Wochen gehen lässt – in kleinen Scheibchen, mal eine Woche, mal 14 Tage, wohlgemerkt. Ausgleichszahlungen sind nicht vorgesehen. Betriebsrat? Auch nicht.
Auch uns JournalistInnen trifft es mittlerweile heftig: Wenn wir nicht ganz rausfliegen, werden die Honorare gekürzt: teilweise jetzt schon um 20 Prozent. Paul Nolte behauptet, die Einkommen (der Mittelschicht) hätten sich seit 1990 zufrieden stellend entwickelt. Wie kommt es dann, dass ein guter Freund von mir, einer jener angeblich so gesuchten Facharbeiter, für dieselbe und mehr Arbeit und bessere Qualifikation heute weniger bekommt als vor 13 Jahren? Oder um es genauer auszudrücken: dass sein Gehalt nicht einmal an die Inflation angepasst wurde, während die Abgaben ständig stiegen? Dass sein Chef ihm einen Vogel zeigt, wenn er seinen Anspruch auf Fortbildung andeutet? Dass er sich mittlerweile auch krank zur Arbeit schleppt, aus Angst, man könnte ihm kündigen? […] Wie kommt es, dass ich bis 2001 mangels öffentlicher Angebote für die Betreuung meiner kleinen Töchter pro Kind insgesamt 6.500 Euro pro Jahr aufbringen musste, bei 15.000 Euro Nettoeinkommen pro Jahr? Und das, ohne auch nur einen einzigen Cent von der Steuer absetzen zu können, obwohl ich aus meinem privaten Säckel Arbeitsplätze schuf? […] Sie behaupten auch, dass wir verwöhnten Mittelschichtler endlich für unser Studium bezahlen sollten. Als eine von denen, die zwischen 1983 und 1989 studiert haben, musste ich – im Gegensatz zu den Studierenden vor mir und nach mir – mein Bafög voll zurückzahlen. […] Ich finde Eigenverantwortung große Klasse. Aber dieser Staat will immer mehr abkassieren und immer weniger dafür tun. Das fängt ganz banal in der Umgebung an und reicht bis in die Zukunft unserer Kinder. Unser Viertel ist verdreckt, die Straßen sind mit dem Fahrrad kaum noch benutzbar, die Straßenlaternen werden immer häufiger abgeschaltet. Die Öffnungszeiten des Kindergartens meiner Tochter sind gerade um 2,5 Stunden pro Woche gekürzt worden, die Erzieherinnen sind trotzdem ständig überlastet, weil viel zu wenig. […]
Sie schreiben: „Wirkliche Herausforderungen an die eigene Lebensführung sind bisher ausgeblieben.“ Vielleicht in Ihrem Leben, Herr Nolte. […] Viele Menschen in diesem Land haben dieses Glück nicht und müssen sich seit Jahren täglich der Herausforderung stellen, nicht abzustürzen. […]
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