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Archiv-Artikel

Afghanistan wird Islamische Republik

Nach wochenlangen Verhandlungen einigt sich die Große Ratsversammlung in Kabul doch noch auf eine neue Verfassung. Sie ist Voraussetzung für die in diesem Jahr geplanten Wahlen. In letzter Minute konnte ein Scheitern abgewendet werden

AUS BOMBAY BERNARD IMHASLY

Nach drei Wochen harten Verhandlungen hat die Große Ratsversammlung in der afghanischen Hauptstadt Kabul am Sonntag eine neue Verfassung verabschiedet. Kurz vor Mittag verkündete der Ratspräsident Sibgatulla Mudschadeddi überraschend, dass „alle Mitglieder der Loja Dschirga eine erfolgreiche Einigung erzielt haben“. Das Verfassungsdokument sollte noch am Sonntag von Staatspräsident Hamid Karsai unterzeichnet werden. Damit ist der Weg offen für den Beginn des Wahlprozesses, bei dem das Volk ein neues Parlament und einen Staatspräsidenten bestimmen soll. Falls der Fahrplan des Bonner Abkommens vom Dezember 2001 eingehalten werden kann, werden diese Urnengänge spätestens im Juni stattfinden. Angesichts der mühsamen Erstellung der Wählerlisten – vor allem bei der Registrierung der Frauen – sowie der immer noch großen Zahl bewaffneter Milizen hat die UNO durchblicken lassen, dass die Wahlen auch erst im September stattfinden könnten.

Die Annahme einer neuen Verfassung durch ein halbwegs demokratisch gewähltes Stammesparlament ist ein großer Erfolg für Präsident Karsai. Er hatte nicht nur den gemäßigt islamischen Charakter des Entwurfs befürwortet, sondern seine eigene Zukunft in die Waagschale geworfen, als er seine Kandidatur für die Präsidentschaft davon abhängig machte, dass diese mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet wird. Seine Gegner – konservative Islamisten, ehemalige Mudschaheddin-Kommandanten und die großen nichtpaschtunischen Stämmen im Norden – argumentierten, Afghanistans multiethnische Gesellschaft brauche eine föderalistische Struktur. Karsai hielt dagegen, dass das Land nach 23 Jahren Bürgerkrieg eine starke nationale Führung benötige.

Am Ende setzte sich Karsai durch. Der Präsident wird mit weitreichenden gesetzgeberischen und politischen Vollmachten ausgestattet, die jenen eines US-amerikanischen Präsidenten gleichen. Die Gegner wurden mit wenigen Konzessionen abgespeist, etwa dem Vetorecht des Parlaments bei wichtigen Ernennungen, der Einrichtung zweier Vizepräsidenten sowie der Anerkennung der Regionalsprachen als Amtssprachen in jenen Provinzen, in denen diese von einer Mehrheit gesprochen werden. Neben Paschtu, der Sprache des größten Stammesverbands, soll zudem die Nationalhymne auch in Dari, der persischstämmigen Sprache großer Stämme wie der Tadschiken, gesungen werden. Die Islamisten setzten sich mit ihrer Forderung eines Alkoholverbots durch, konnten aber nicht erreichen, dass die Scharia der zivilen Gesetzgebung übergeordnet wurde. Die laizistischen Vertreter konnten die explizite Verankerung gleicher Rechte für die Frau in der Verfassung durchsetzen.

Der erfolgreiche Abschluss ist ein Gewinn für die traditionelle Fähigkeit der tribalen afghanischen Gesellschaft, im Angesicht tiefer ethnischer Gräben kompromissfähig zu bleiben. Umstritten war freilich das Vorgehen, die Vorschläge der in zehn Arbeitsgruppen aufgeteilten 502 Delegierten durch eine fünfzigköpfige Kommission zu bereinigen und durch eine achtköpfige Gruppe in einen Schlusstext zu fassen. Als am Donnerstag über fünf Änderungsvorschläge abgestimmt werden sollte, blieben 200 Abgeordnete demonstrativ sitzen.

Diese Vorschläge betrafen u. a. die Anerkennung der Regionalsprachen der Usbeken und Turkmenen als offizielle Sprachen sowie den Versuch der Paschtunen, Paschtu als einzige Sprache der Landeshymne durchzusetzen. Damit brachen in der letzten Woche plötzlich die ethnischen Gegensätze offen aus, die bisher hinter politischen und religiösen Forderungen versteckt worden waren. Der UN-Vertreter Lakhdar Brahimi und der (afghanischstämmige) US-Botschafter Zalmay Khalilizad bemühten sich bis in den frühen Sonntagmorgen, eine geheime Abstimmung zu vermeiden und eine Annahme per Konsens zu erreichen. Dank dem weitverbreiteten Willen der meisten Delegierten, die ethnischen Gräben endlich zuzuschütten, ist ihnen dies gelungen. Dies verbessert nun die Chancen, dass das Verfassungsdokument die nötige Akzeptanz und landesweite Autorität erhält. Eine Kommission soll eingesetzt werden, die über dessen Durchsetzung wachen soll.