: Die grausame Mama
AUS ODESSA JÖRG ALBINSKY
Ein weiteres Mal geht Jura nicht in die Agronomenstraße. Das steht fest. Der 30-Jährige ist oft genug den schlammigen Plattenweg bis zum letzten Haus hinuntergelaufen, wo in einem tristen Zweigeschosser die Stadt Odessa endet. Er hat dort Freunde besucht. Aber von denen ist keiner mehr übrig. Auf dem hoch umzäunten Grundstück liegt das Bezirkskrankenhaus für HIV-Positive. Jura nennt es Spezialzentrum, um nicht Sterbestation sagen zu müssen. Denn das kleine Krankenhaus dient vor allem der Verwahrung, nicht der Behandlung. Viele von Juras Freunden lagen hier. Und wie man da stirbt, so will Jura nicht sterben. Irgendwie, aber so nicht.
Jura ist ein zurückhaltender Mensch. Er wirkt beinahe artig. Bevor er mit seiner leisen Stimme antwortet, hat er sich Worte zurechtgelegt. Nichts Impulsives ist in seinem Wesen. Und deshalb will sein Lebenslauf auch gar nicht zu ihm passen. Zu viel Gewalt, auch spontane und brutale, kommt darin vor. Vielleicht rührt der Widerspruch aber auch daher, wie Jura über sich erzählt – als beschreibe er einen Film, der ihm nicht gefallen hat, aber doch nahe ging. Jura weiß, dass eine Geschichte wie die seine in Odessa, der maroden, aber schönen „Mama“, wie die Leute sagen, zu oft schlecht endet. Odessa ist Europas Großstadt mit dem prozentual höchsten Anteil HIV-Infizierter. Die Agronomenstraße 210 könnte ein Symbol dessen sein. Doch wer braucht schon ein Symbol für etwas, mit dem niemand zu tun haben will.
Jura sieht schön aus, wenn er lacht. Nicht nett, sondern schön. Dann mischt sich das Dunkle in seinen Augen mit der Unschuldsmiene eines Sechzehnjährigen. Man möchte weiter lachen, damit es so bleibt. Sonst wirkt er wie die meisten ukrainischen Männer seines Alters: Die Haare kurz, schwarze Lederjacke, Sporthose oder Jeans, dunkle Halbschuhe. Nur sein Blick ist dunkler, tiefer.
An die Drogen geriet Jura mit fünfzehn. Das war Ende der 80er-Jahre. Glasnost, die neue Offenheit, hatte der Sowjetunion gerade erschütternde Einsichten beschert. Die Perestroika, der Umbau, führte das Land wirtschaftlich, sozial und moralisch an den Abgrund. Im Riesenhafen Odessa war der Systembruch besonders hart zu spüren. Arbeitslose Matrosen tingelten durch die verkommene Pracht der Bürgerhäuser, besoffen, ohne Aussicht auf eine Zukunft. Immobilien wurden verhökert, Kinder auf die Straße gesetzt, Fabriken geschlossen. Odessa versank im kriminellen Chaos – mehr als andere Städte des Sowjetimperiums. Bei einem Ernteeinsatz der Schule fing es an. Einer der Jungs hatte das Zeug besorgt und eine Spritze. Abhängig war Jura gleich nach dem ersten Mal.
Während die Straßen unsicherer werden und sich die Menschen ihrer Stadt entfremden, herrscht bei Jura zu Hause ein klares Regime: Die Kinder sind die Besten und werden vorn und hinten umsorgt, solange sie den Willen der Eltern ausführen. Und der ist so hart wie die neue Wirklichkeit. Drogen oder gar Sex sind kein Thema. Der Siebzehnjährige ist schließlich noch ein Kind und nichts ist so prüde wie eine sowjetische Durchschnittsfamilie. Schon das Wort Sex ist westlich-dekadent.
Nach der Schule zieht Jura mit seiner Clique ums Eck. Abends schlürft er den Borschtsch seiner Mutter. Die Eltern ignorieren die neue Zeit auch dann noch, als sie längst in ihrer Wohnung Platz genommen hat. Sie wollen die Gerüchte der Nachbarn nicht hören, dass ihr Sohn zu den „Kriminellen“ gehöre. Mama ist Mama, sagt Jura. Sie hat mir geglaubt. Bis der Vater Drogen findet, Geld und geklaute Sachen. Die Mutter, die Hausfrau ist, schreit und weint. Der Vater, der sich als Kranführer durchschlägt, bricht ganz mit dem Sohn. Von da an ist Jura auf der Jagd.
Das Land nennt sich jetzt nicht mehr Sowjetunion, sondern Ukraine, der Proletarische Boulevard heißt wieder Französischer und der Sozialismus hat offiziell kapituliert. Jura klaut. Mit seiner Gang bricht er Garagen und Keller auf. Später knacken sie Autos. Und dabei bleibt es nicht. Sie überfallen Leute, mal mit Drohungen, mal mit körperlicher Gewalt. Es ging um Geld, sagt Jura. Um nichts weiter. Er hatte keinen Spaß dabei. Aus Krawtschuk wird Kutschma. Die Preise steigen, Heroin ist ohnehin zu teuer. Das kommt aus Afghanistan und Tadschikistan, während chemisches Zeug, Opiate aller Art, vom heimischen Markt für zwanzig Griwna die Spritze zu haben sind, gut drei Euro. Aids ist kein Thema. Spritzen werden rumgereicht wie Wodkaflaschen.
Mitte der 90er-Jahre wandert der Erste aus der Clique in den Knast. Doch das bleibt die Ausnahme. Die Bullen gehören schließlich dazu. Manchmal, sagt Jura, haben wir den Stoff sogar von der Miliz gekauft. Die hatten ihn zuvor Zigeunern abgenommen. Jura treibt durch die Tage. Manchmal wacht er auf. Dann sucht er einen Job in den von Platanen überdachten Altstadtstraßen. Einmal fängt er sogar eine Ausbildung zum Mechaniker an. Seine Mutter, die noch Kontakt zu ihm hält, hat ihn dazu überredet. Doch an den offenen Drogenmärkten führt auf Dauer kein Weg vorbei.
Und Frauen? Er hatte all die Jahre nichts weiter als Sex, sagt er. Dann sagt er eine ganze Weile nichts. Mechanischer Sex sei das gewesen. An eine eigene Familie oder gar Kinder war nicht zu denken. Dann sagt er wieder nichts. Jura will längst zu der Gesellschaft gehören, die ihn so lange nicht haben wollte. Er möchte auch mal Erwartungen erfüllen, die man an einen jungen Mann hat. Und die sind in der Ukraine sehr konkret: Man heiratet jung, arbeitet, kauft eine Wohnung, zieht ein Kind groß. Zwar lassen Städte wie Odessa mittlerweile weit mehr Spielarten zu, aber im Chaos der 90er waren Jura und seine Freunde so etwas wie Rebellen ohne Programm. Da war Sex, da war Lust, es gab Drogen und Überfälle, all das, was die sozialistische Kleinbürgerlichkeit auszusperren versuchte. Der Tod war mit von der Partie – von Anfang an.
Er kann sich an jede einzelne Beerdigung errinnern. Sie waren mal zwanzig in der Gang, zwei sind noch übrig. Jura und sein früherer Kumpel, der seit Jahren im Knast sitzt. Alle anderen sind an einer Überdosis oder Aids gestorben. Die täglichen Gänge in die Agronomenstraße, die Beerdigungen: vielleicht war es das, warum Jura vor einem Jahr mit den Drogen aufhörte. Er kann es nicht erklären. Aber es war sein Entschluss, die Notbremse zu ziehen. Und er hat durchgehalten, hat entzogen. Das ist wie eine Säure, die dich von innen auffrisst, sagt er. Die Beine werden verschnürt, und dann hört das Leben in dir auf.
Ein halbes Jahr später geht Jura den nächsten Schritt. Er ist jetzt clean und lässt einen Test machen. Obwohl er wusste, dass er HIV-positiv ist, steht er unter Schock. Es ist immer schwer, sich etwas einzugestehen, sagt Jura. Er läuft durch die Straßen, die Schwarzmeercharme atmen, und forscht in den Gesichtern der Passanten, ob sie ihm die Infektion ansehen. Aber die Leute bemerken nichts. Sie gehen weiter, und so geht auch Jura weiter und schiebt den Tod zur Seite wie einen unliebsamen Bekannten. Es gibt Vereine in Odessa, die sich um Positive kümmern. Bei einem von ihnen hat Jura angeheuert, bei „Schizn +“, was „Leben“ bedeutet. Seit zwei Monaten berät er dort Drogenabhängige. 420 Griwna bekommt er dafür, rund 70 Euro. Das ist wenig, aber es hilft.
Außerdem ist er dort nicht allein – mit seiner Angst vor der Agronomenstraße, dem bis unters Dach vergitterten Sterbehaus am Rande der Stadt. Nichts und niemand sollte dort zu Sowjetzeiten hinkommen, als sich in dem Haus eine Isolierstation für Leprakranke befand. Heute leben hier Aidspatienten in 25 Betten vor sich hin. Das Essen ist breiig und vitaminlos. Die Medikamente reichen vorn und hinten nicht, obwohl HIV-Infizierte Anspruch auf kostenlose Versorgung haben. Jura erzählt, wie die Klinik manchmal über Tage nicht zu erreichen ist, weil das Geld für die Telefonrechnung fehlte. Doch was ihn wirklich fertig gemacht hat, waren die Schreie. Immer wieder hat er sie gehört. Jeden dritten, vierten Tag stirbt jemand in der Agronomenstraße. Jura stirbt zu Hause oder sonstwo. Da jedenfalls nicht, das hat er sich geschworen.
Wenn Jura davon erzählt, schwingt Stolz mit. Drogen und Aids, das ist sein Thema, und wenn es weiter so läuft bei dem Verein, hat er den ersten richtigen Job in seinem Leben. Für „Schizn +“ ist er endlich jemand, nicht nur einer von offiziell 8.000 und geschätzten 80.000 HIV-Infizierten im Gebiet um Odessa. Sie brauchen ihn hier im Kampf gegen die Ahnungslosigkeit und das Schweigen. Ihm glaubt man, wenn er sagt, dass Kondome aus Istanbul häufig reißen oder dass HIV nicht durch küssen übertragen wird. „Es ist zwar schon besser geworden“, sagt er. „Aber auf den Dörfern wissen die Leute nichts. Sie reden weder über Sex noch über Aids. Das alles sind Tabus. Was hier fehlt, ist nicht nur Geld. Es braucht vor allem mehr Information. Das wünsche ich mir.“
Auf die Frage, was er für sich wünscht, antwortet er nichts. Verstockt sitzt er auf der maroden Holzbank in einem Odessaer Hinterhof. Auf der Straße hupt sich der Verkehr durch die Stadt. „Ich kann mir nichts wünschen“, sagt er dann. „Ich fürchte, dass der Wunsch ja doch nicht erfüllt werden kann. Ich hab mich getrennt von Wünschen, verstehen Sie das?“