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Archiv-Artikel

Zurück zu den Graswurzeln

Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen in den USA befinden sich die Demokraten in einer eklatanten Selbstfindungskrise. Einige Kandidaten setzen darum verstärkt auf Grassroots-Initiativen und hoffen auf die Mobilisierung der HipHop-Generation

Al Sharpton will mit Black-Power-Rhetorik die Afroamerikaner hinter sich bringen

VON ANDREAS BUSCHE

Amerikas Polit-Auguren staunten nicht schlecht, als Al Gore sich im Dezember ausgerechnet für Howard Dean als Kandidat der Demokraten im Präsidentschaftswahlkampf 2004 aussprach. Gores Entscheidung zeugt zweifellos von politischem Kalkül. Mit der Nominierung Deans, die in höheren Parteikreisen als nicht gerade glücklich betrachtet wurde, meldete sich Gore nach längerer Pause spektakulär in der politischen Arena zurück.

Weitaus bemerkenswerter war jedoch die Begründung, die Gore seiner Entscheidung nachschob – im demokratischen Lager ist sie fast als kleine Revolution gewertet worden. „Howard Dean“, verkündete Gore am 9. Dezember auf einer Wahlveranstaltung in Harlem, „ist der einzige Kandidat, der es wirklich geschafft hat, die Leute zu inspirieren und Grassroots-Initiativen im ganzen Land auf seine Seite zu ziehen.“

Die Aussage Gores verdeutlichte, in welcher eklatanten Selbstfindungskrise sich die amerikanischen Demokraten ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen befinden. Grassroots-Initiativen galten in vergangenen demokratischen Wahlkampfkampagnen allenfalls als Zünglein an der Waage, während der politische Kurs maßgeblich vom Democratic Leadership Council (DLC), dem konservativen Flügel der Demokraten, bestimmt worden war (zu dessen Gründungsmitgliedern Al Gore im Übrigen gehört). Nicht zuletzt der zentralistische Kurs des DLC war mit verantwortlich dafür, dass viele amerikanische Wähler das alte Zweiparteiensystem heute nur noch als bloße Farce betrachten – die Wahlbeteiligung ist in den USA inzwischen auf einen alarmierenden Stand gesunken. In den Augen des DLC sind Grassroots-Initiativen und politische Aktivisten lediglich fehlgeleitete „Elitaristen“, die nicht „das Herz der demokratischen Partei und ihrer Wähler repräsentieren“.

Gore allerdings weiß sehr wohl, wie wichtig die Unterstützung dieser Bewegungen für die Demokraten heute geworden ist. In den Wochen vor seinem Auftritt in Harlem hatten er und Bill Clinton eifrig im Bürgermeisterwahlkampf in San Francisco mitgemischt. Dort hatte der Green-Party-Kandidat Matt Gonzalez mit Hilfe von Bürgerinitiativen und politischen Splittergruppen des gesamten linksalternativen Spektrums einen Grassroots- Wahlkampf vom Stapel gelassen, wie ihn Amerika seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hat. Gonzalez verlor am Ende um 4 Prozent gegen den demokratischen Kandidaten, nicht zuletzt weil Gore und Clinton in Kalifornien ihre letzten Reserven aufgefahren hatten. San Francisco gilt als die Fundraising-Hochburg der Demokraten, darum war die Bürgermeisterwahl für die Demokraten von existenzieller Bedeutung.

Die Tatsache nun, dass sich Gore über den allmächtigen DLC hinweggesetzt und eine Intensivierung der Grassroots-Arbeit zum obersten Gebot erklärt hat, zeigt, wie tief die Kluft innerhalb der Demokratischen Partei drei Jahre nach der Wahlauszählung von Florida tatsächlich ist. Diese Wunde ist längst nicht verheilt, und die Erinnerung an die „gestohlene Wahl“ ruft bei leidenschaftlichen Demokraten immer noch Panikattacken hervor. Die Partei, wird intern der Teamgeist beschworen, müsse nun ganz dicht zusammenrücken, damit sich dieses Debakel nicht wiederholt.

In der Realität ist das Bild, das die Demokratische Partei in der Öffentlichkeit abliefert, jedoch reichlich desolat. Obwohl zahlenmäßig mehr Amerikaner sich Demokraten denn Republikaner nennen, stellen die Republikaner den amerikanischen Präsidenten und halten die Mehrheit sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat. Den Demokraten, so ließ sich aus Parteikreisen in letzter Zeit immer häufiger vernehmen, mangele es entschieden an politischem Profil und einer schlüssigen Strategie. Die einstige Stärke, Wähler aus einem breiten gesellschaftlichen Spektrum (Afroamerikaner, Hispanos, Arbeiter, Feministinnen, Allzweckliberale) zu erreichen, gereicht ihnen schon lange nicht mehr zum Vorteil, da heute eine einheitliche Basis fehlt, diese unterschiedlichen Positionen noch zu vereinen.

Die Republikaner haben sich schon immer auf einfache Botschaften verlassen. Unter Reagan begannen sie zudem, eine beispielhafte Infrastruktur aus politischen Gruppen, demografischen Organisationen und Medienorganen zu entwickeln, mit deren Unterstützung die Partei seit Jahren erfolgreich in demokratischen Gefilden, etwa unter afroamerikanischen Wählern, auf Stimmenfang geht. Die Demokraten dagegen haben große Teile ihrer alten Stammwählerschaft, vor allem die Mittel- und Arbeiterklasse, brach liegen lassen und stattdessen unter der Ägide der „New Democrats“ und des DLC vergeblich versucht, im rechten Politspektrum den Republikanern konservative Wechselwähler streitig zu machen.

Al Sharpton, einer der neun Kandidaten für den demokratischen Herausforderer, gehört seit langem zu den lautesten Kritikern dieses demokratischen Kurses; innerparteilich ist er für seine unversöhnliche Haltung berüchtigt. Sharpton, der in den Medien gerne auch „The Reverend“ genannt wird, ist ein politischer Hitzkopf und radikaler Black-Power-Wortführer. Seit Mitte der 80er-Jahre hat sich der Jesse-Jackson-Protegé und James-Brown-Soul-Brother entlang rassistischer Übergriffe (von Bernard Goetz bis Amadou Diallo) vor allem einen Namen als unerbittlicher Kritiker der unverhohlen rassistischen Politik in seiner Heimatstadt New York gemacht. „Wir haben“, erklärte Sharpton im November dem US-Magazin Rolling Stone, „die letzten zehn Jahre damit verbracht, Archie Bunker [Familienvater einer erfolgreichen 70er-Jahre-TV-Serie, vergleichbar mit Al Bundy], der uns niemals seine Stimme geben wird, hinterherzulaufen, statt junge, progressive Menschen und die HipHop-Generation anzusprechen.“

Howard Dean, Ex-Gouvernor von Vermont, einem progressiven, übermäßig von weißen Mittelschichtlern bewohnten Zwergstaat, in dem Eissorten nach Althippierockern benannt werden („Cherry Garcia“), hat bereits hinreichend Erfahrungen mit solchen Grassroots-Initiativen gesammelt. Allein über Spendenaufrufe auf seiner Website ist es ihm in der Vergangenheit gelungen, seine Wahlkämpfe zu finanzieren und so unabhängig vom soft money aus der Wirtschaft seine Politik zu bestreiten. Das Modell „Dean“ hat den Demokraten sinnbildlich gezeigt, woran es ihren Kampagnen in den letzten Jahren gemangelt hat. Zu lange hat die Führungsspitze das finanzielle Potenzial privater Kleinstspender – und damit auch deren Bedürfnisse – vernachlässigt, und sich damit um die wichtige Unterstützung der Basis gebracht.

Auch Sharpton hat jüngst immer wieder betont, für wie wichtig er eine „Mobilisierung“ der demokratischen Basis erachte: Wähler, die von der zentralistischen Politik der Demokraten in den letzten zehn Jahren enttäuscht wurden, sowie die so genannte HipHop-Generation, der erst wieder klar gemacht werden müsse, dass Wählen sich wirklich lohnt – indem Alternativen präsentiert werden. Und die will Sharpton bieten. Ein Karrierepolitiker werde Bush jr. nicht aufhalten, sagt Sharpton. Das schaffe nur eine Bewegung. „Wir werden so oder so nicht mehr Sendezeit als Bush kaufen können – aber wir haben dafür die Leute (‚the people‘) auf unserer Seite.“

Wenn Sharpton spricht, fühlt man sich wie in die frühen Siebzigerjahre zurückversetzt. Er befinde sich in einem Kampf um „die Seele der Demokratischen Partei“, sagt er in solchen Momenten, oder etwas schärfer: „Wenn wir Schwarzen darauf gewartet hätten, dass Amerika bereit ist, dann säßen wir immer noch hinten im Bus.“ Für Sharpton geht es in erster Linie darum, die Mehrheit der afroamerikanischen Wähler hinter sich zu bringen. Zu seinen Wahlversprechen gehört, bis nächsten Sommer eine Million neuer Wahlregistrierungen zu erreichen. Solche Pläne gehen konform mit jüngeren demokratischen Initiativen, potenzielle Wähler zu aktivieren. Gerade erst hat der US-Gewerkschaftsverband AFL-CIO eine Initiative gestartet, die den Amerikaner wieder zur politischen Meinungsbildung anspornen soll. Dazu gehören Hausbesuche, Stimmenregistrierung und Informationsveranstaltungen – klassische politische Grassroots-Arbeit also, wie sie die Republikaner seit Jahren in ihren Zielgruppen pflegen. Ein weiteres Projekt war die Gründung eines politischen Aktionskomitees, das zwischen den verschiedenen hispanischen Interessengruppen vermitteln soll. Zwischen all diesen ambitionierten Unternehmungen nimmt sich Al Sharptons geplante Bustour durch Amerika – mit befreundeten HipHop-Musikern selbstverständlich – fast wie ein demokratisches Lollapalooza aus.

Im Zwergstaat Vermont, aus dem Dean stammt, werden Eissorten nach Althippies benannt

Ob Howard Dean die Lichtgestalt ist, die Demokraten mit Demokraten zu versöhnen vermag, bleibt jedoch fraglich; bisher hat er sich in der Öffentlichkeit eher als Spalter hervorgetan. Er hat sich früh gegen den Irakeinsatz ausgesprochen, tritt für schärfere Waffengesetze ein und steht mit dem DCL auf Kriegsfuß. Zwar hat Dean einige einflussreiche afroamerikanische Politiker wie Jesse Jackson jr. auf seiner Seite, bei schwarzen Wählern findet er jedoch noch wenig Anklang. Als er und Gore auf der New Yorker Wahlveranstaltung im Dezember verkündeten, „wieder zurück in Harlem zu sein“, wunderten sich nicht nur die New Yorker. Bei seinem letzten Besuch hat Dean gerade mal einige Körbe mit ein paar Streetkids geworfen.

Aber auch Sharpton stößt noch auf Widerstand in der schwarzen Wählerschaft. Ein weiterer Rückschlag war, dass Ende Oktober Jesse Jackson jr., der Sohn seines Mentors, ebenfalls Howard Dean zu seinem Favoriten erklärte. Dies hat viel mit der begründeten Angst der Demokraten zu tun, die kommende Wahl erneut zu verlieren. Für den liberalen Flügel der Demokraten verspricht Dean mehr Breitenwirkung als der unbequeme und allzu selbstverliebte Sharpton, der noch bis vor wenigen Jahren bevorzugt in bunten Trainingsanzügen, behängt mit dickgliedrigen Goldketten und gekrönt von einem Riesenafro vor die Kameras trat. Eine New Yorker Zeitung schrieb vor einigen Jahren über Sharpton, dass er einen imaginären Blaxploitation-Soundtrack im Kopf habe, wenn er das Haus verlässt. Howard Dean dagegen exponiert sich lieber mit Aussagen wie, er wäre gerne auch der Kandidat für Typen mit Konföderiertenflaggen in ihren Pick-up-Trucks. Das passt schon besser zur neodemokratischen „Integrationspolitik“ und macht ihn relativ unverträglich für die von Sharpton anvisierte Wählergruppe.

Sharpton ist Realist genug, sich selbst keine allzu großen Chancen in diesem Wahlkampf auszurechnen. Es gehe aber auch gar nicht darum, hat er im Rolling Stone erklärt, dass Al Sharpton ins Weiße Haus einmarschiere, sondern dass Amerika wieder auf den richtigen Weg geführt werde. Von Martin Luther King habe er gelernt, dass es zwei Arten von Führerpersönlichkeiten gibt: Die einen sind Thermometer; sie testen die Temperatur im Raum, bevor sie den Mund aufmachen. Die anderen sind Thermostate: Sie verändern die Temperatur im Raum. Kein Zweifel, in welcher Kategorie Sharpton sich sieht.

Es dürfte in den kommenden Monaten interessant sein zu beobachten, was der konservative Flügel der Demokraten den „Straßenaktionen“ Sharptons und den Vorstößen Deans/Gores entgegenzusetzen hat. Der DCL jedenfalls scheint vorerst entmachtet. Ihre Kandidaten Richard Gephardt und Joseph Lieberman, beide wie Gore Mitbegründer des Councils, spielten in den jüngsten Diskussionen eher untergeordnete Rollen.

Für einige der neun Kandidaten wird es daher wohl noch ein langes und zermürbendes Jahr werden. Fear and Loathing on a Campaign Trail.