Keine Angst vor der Hölle
Der Reformtheologe des Islam, Nasr Hamid Abu Zaid, führt den Koran ins 21. Jahrhundert
VON LUDWIG AMMANN
Eigentlich hätte ein Rauschen durch den Blätterwald gehen müssen, sogar für ein, zwei Talkshows hätte es reichen können: das Manifest eines aufgeklärten Islam, verfasst von einem waschechten liberalen Reformer und geadelt durch die islamistischen Anfeindungen, denen der kritische Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid vor seiner Auswanderung nach Europa in seiner ägyptischen Heimat ausgesetzt war. Stattdessen weithin Schweigen.
Könnte es sein, dass eine überwiegend antiklerikal gestimmte Öffentlichkeit unter „Aufklärung“ vorzüglich dies versteht: Ab in den Reißwolf mit der Religion! Und daher die Exmuslimin Ayaan Hirsi Ali hofiert, aber betreten schweigt, wenn einer als Frommer seine Stimme erhebt und so die dünkelhafte Gewissheit widerlegt, dass es einen progressiven Islam gar nicht geben könne?
Es gibt ihn längst. Nicht schon als mehrheitliche Praxis, wohl aber als Entwurf und vielleicht am kühnsten unter muslimischen Intellektuellen im Westen. Hier kämpft Abu Zaid seit langem an vorderster Front.
Sein neues Buch „Mohammed und die Zeichen Gottes“ macht nun vor, wie man sich auf den Koran berufen kann, um die Muslime ins 21. Jahrhundert zu führen. Da das knifflige Thema alle angeht, hat er seine Thesen im Gespräch mit einer Journalistin entwickelt. So entstand mit Hilal Sezgins Beistand ein für Laien bestens verständlicher Text. Theologisches, gemeinhin im Verdacht, strapaziös zu sein, verwandelt sich hier in ein geradezu volkstümliches Denkvergnügen.
Wie also ist der Koran eineinhalb Jahrtausende nach seiner Offenbarung zu verstehen? Natürlich nicht wortwörtlich! Denn der Koran ist, so Abu Zaid ohne Umschweife, ein historischer Text, das Göttliche im Gespräch mit seiner ersten Gemeinde. Wer Gottes – die damaligen Zeitumstände berücksichtigenden – Antworten einfach nur wörtlich auf unsere Zeit überträgt, verrate den Geist seiner Botschaft.
Es bedürfe einer Anstrengung der Vernunft, um ihn richtig zu deuten, nämlich den zeitlos gültigen Kern der Botschaft jenseits aller zeitbedingten Formulierungen zu erfassen. Abu Zaid läuft also gegen den Buchstabenglauben engstirniger Gelehrter Sturm, die das Rad der Geschichte am liebsten zurückdrehen würden.
Für sie ist der Wortlaut nicht zuletzt deswegen sakrosankt, weil – so der theologische Mainstream – der Koran buchstäblich Gottes eigenes Wort sei. Der Prophet Mohammed ist nach dieser Auffassung nicht mehr als ein Papagei, der die vom Erzengel überbrachte Botschaft nachplappert. Abu Zaid schätzt die Leistung des Propheten höher ein: Er habe die göttliche Eingebung, von der der Koran selber spricht, überhaupt erst in Worte übersetzt. Womit die auch im Christentum lange vorherrschende Annahme einer Verbalinspiration verabschiedet wäre. Nachdem der Boden für eine zeitgemäße Deutung bereitet ist, bricht Abu Zaid eine Lanze für das metaphorische Verstehen: So lasse sich der überzeitliche Gehalt oft am besten ausmachen. Paradiesgarten und Höllenfeuer gehen dabei als Erstes über Bord – als bloße Bilder mit pädagogischem Hintersinn.
Konsequent, wenngleich schade ums sinnliche Paradies. Dennoch ist die menschenfreundliche Absicht zu loben, die Gläubigen von ständiger Höllenangst zu entlasten.
Wie es überhaupt Abu Zaids Standpunkt auszeichnet, Gott ganz vom Menschen her zu denken. Den klassischen Streit der Theologen, ob Gott nun konkret oder abstrakt vorzustellen sei, verwirft er als Ganzes. Denn beides brauche der Mensch, auch die vermenschlichende Sicht – ein rein abstrakter Theologengott sei nichts für gewöhnliche Menschen.
Abu Zaid bekleidet in Utrecht den Ibn-Rushd-Lehrstuhl für Humanistik und Islam. Er nähert sich den großen Fragen so, dass seine Antworten auch kleinen Leuten nutzen. Und Nichtmuslimen und Frauen: Der von islamischen Reichen einst praktizierte Angriffsdschihad bleibt bei seiner historischen Deutung auf der Strecke, und die Darlegungen zur Geschlechterfrage sind Musterbeispiel einer so ehrlichen wie gescheiten liberalen Reform.
Ja, der Koran ist in vielem ein männerorientierter Text. Aber es gibt nachweislich Reformimpulse hin zu mehr Geschlechtergleichheit. Diesem Ideal einer gerechteren Welt gilt es zu folgen und nicht den überholten Erbregeln des 7. Jahrhunderts.
Abu Zaid weiß sehr wohl, dass die Gläubigen die Wahl haben zwischen seinem liberalen Islamverständnis und der Zwangsjacke der Salafi-Bewegung, die das Leben bis ins Kleinste durch Nachahmung eines vergangenen goldenen Zeitalters regeln will – und vielerorts noch immer Mode ist. Der verbreitete Hang zur Selbstentmündigung entlockt ihm einen Stoßseufzer: „Je mehr dumme Fragen man stellt, desto mehr dumme Antworten bekommt man!“
Wer davon genug hat, kann nun nach Lektüre seines Gegenentwurfs mit bestem Gewissen die Zumutung eines geschichtsvergessenen Copy-and-paste-Islam zurückweisen.
Nasr Hamid Abu Zaid, Hilal Sezgin: „Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam“. Herder Verlag, Freiburg 2008, 224 Seiten, 19,95 Euro