: Allein unter Vögeln
Als Vogelbeobachterin lebte Olga Gaponowa allein auf der acht Hektar großen Hallig Norderoog. Zum Baden musste die 24-Jährige aus St. Petersburg in eine Vertiefung im Watt und außer Vögel zählen gab es nicht viel zu tun. Trotzdem hat sie keinen „Halligkoller“ bekommen
von ROGER REPPLINGER
Du denkst, da draußen in der Nordsee, da spielt die Zeit keine Rolle. Da sind nur Vögel, Wind, Wolken und Wasser. Aber nein, so ist das nicht. Auf die Hallig Norderoog kommst Du nur bei abnehmendem Wasser. Erst fährst Du mit der Fähre von Nordstrand nach Pellworm und dann von Pellworm mit dem Schiffchen der Brüdern Hellmann so weit, dass Du ins Ruderboot steigst und einer der Brüder rudert dorthin, von wo aus Du die letzten hundert Meter durchs Watt laufen kannst. Die Voraussetzung: Gummistiefel. Hohe Gummistiefel.
Olga Gaponowa, 24, aus St. Petersburg, war alleine hier. Wenn man die Vögel nicht zählt. Heute verlässt Olga Norderoog. Wir holen sie ab: Uwe Schneider, der Vorsitzende des Vereins Jordsand und drei Zivildienstleistende. Die Hallig Norderoog gehört dem 1907 ins Register eingetragenen Verein Jordsand. Der wurde gegründet, so erzählt Schneider, weil zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fauna und Flora vor den Auswirkungen des Tourismus und der Jagdleidenschaft geschützt werden mussten. „Die amerikanische Wandertaube, der Riesenalk und der Eskimobrachvogel wurden von den Jägern weggeschossen“, sagt Schneider. Auch die Mode war ein Problem: Die Seeschwalbe wurde mit Netzen gefangen, weil sich ihre Schwanzfeder in den Hüten der Damen gut machte.
Jordsands damaliger Vorsitzender Franz Dietrich kaufte die Hallig Norderoog am 18. April 1909 für 12.000 – durch Spenden aufgebrachte Goldmark von Herrn Feddersen aus Hooge. Feddersen hatte sie von der Familie Hellmann aus Pellworm erworben. Genau – die Hellmanns sind das. Die Welt ist klein. Hier ist sie kleiner.
Als wir ankommen wölbt sich über Norderoog ein Regenbogen. Gleich darauf regnet es. In zwei Minuten sind wir klitschnass. Olga ist ein Kobold. Klein, lustig und flink. Auf dem Tisch steht ein Topf in der eine russische Haferbrei-Version pampt. Kaffee und Tee gibt es auch. Über dem Ofen hängen Wollsocken. Olga kam über den European Voluntary Service hierher. Auch Russen, Schweizer und Norweger, deren Länder nicht in der Europäischen Union sind, werden zu Europa gerechnet. Wer ein freiwilliges ökologisches Jahr (FÖJ) oder Zivildienst leistet, kann auch auf Halligen als Vogelwart leben.
Auf die Frage, was sie die ganze Zeit gemacht hat, lacht Olga und sagt „nichts“. Weil das Vögel-Beobachten, zählen und Protokoll führen, keine Arbeit für sie ist. Na ja, die Protokolle vielleicht doch. Dann nennt sie ihre Lieblingsvögel: Wintergoldhähnchen, der kleinste Vogel Europas, nur neun Zentimeter groß, der einen gelben Irokesenschnitt auf dem Kopf hat. Blaumeisen und Rohrammern, die sie bildhübsch findet. Den Raubwürger mag sie nicht, seit sie einmal gesehen hat, wie er ein Rotkehlchen fraß.
Die Hallig ist acht Hektar groß, die westlichste Deutschlands. Wir gehen spazieren. Das geht im Spätherbst, es gibt Jahreszeiten, da kacken dem Vogelwart zehntausende Vögel auf den Kopf. Spaziergänge macht man dann nur mit einem Regenschirm, der hinterher weiß ist.
Ist das Wetter gut, machen die Vogelschwärme auf dem Weg nach Süden keine Pause auf Norderoog. Ist das Wetter schlecht, pusten sie sich hier durch. „Einmal waren 500 Wiesenpieper hier im Gras versteckt“, schwärmt Olga. Sie hatte „kein einsames Gefühl“. Nur in der ersten Nacht. Als der Sturm an den Pfählen, auf denen das Holzhaus steht, rüttelte, als es knirschte und krachte im Gebälk. „Da hab ich mich von meinem Leben verabschiedet“, sagt sie. Am nächsten Tag rief sie Schneider in Ahrensburg an: „Hol mich ab.“ Schneider bat sie, noch eine Nacht zu bleiben. „Dann hatte ich keine Angst mehr“, sagt Olga, „weil ich wusste, dass das Haus nicht weggeht, auch wenn es stürmt.“
Für Dinge, für die man in der Stadt wenig Zeit hat, hat man hier viel: Wasser holen, heizen, sich waschen. Die Badewanne ist eine Vertiefung im Watt, in der bei Ebbe genügend Wasser stehen bleibt, um sich reinzulegen. Das Toilettenhäuschen bauen die Zivildienstleistenden gerade ab. Vermisst hat Olga nur das Joggen und sie fand es schwierig, nachts auf die Toilette zu gehen. Uwe Schneider, 69 Jahre alt, erzählt vom „Halligkoller“: „Da fangen die Leute an zu tütteln. Sie spinnen und rasten aus. Ob und wann das kommt, kann man vorher nicht sagen.“ Da war der Rheinländer, der einfach von Norderoog stiften ging. Türe offen, halbe Tasse Kaffee auf dem Tisch. Übers Watt nach Hooge, von Hooge nach Pellworm, und zurück ins Rheinland. Ohne Nachricht. „Den haben wir drei Tage gesucht, da saß der schon zu Hause“, erinnert sich Schneider, der regelmäßig Kontakt zu den Vogelwarten der Halligen hat. Früher per Funk, heute per Mobiltelefon.
Die Flut schiebt das Wasser auf die Hallig, und mit dem Wasser kommen die Vögel, die im Watt nach Nahrung suchen. Pfuhlschnepfen, Alpenstrandläufer, Sanderlinge in Schwärmen, die wie Wolken über den Himmel wandern. Dann tauchen die Hellmann-Brüder auf und drängeln, weil das Wasser so schnell steigt. Immer haben die beiden Angst um ihr kleines Ruderboot. Wenn Du also denkst, da draußen ist das Leben anders, dann stimmt das, aber so anders ist es nun auch wieder nicht.