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Archiv-Artikel

Landverschickung mit Todesfolge

„Die Wahrheit ist doch, ein Deutscher hat dreiDeutsche umgebracht“

AUS HEIDENHEIM HENNING KOBER

Feinmaschiges Zaungitter steht hoch in den Himmel, Stacheldraht auf der Krone. Überwachungskameras schwenken leise ihre Augen. Der Hof der Kulturbühne 2, kurz K 2, lang „Kulturbühne für unkommerzielle Ansprüche“, ist eine der sichersten Einfahrten Deutschlands. Eigentlich. Eine Justizvollzugsanstalt liegt direkt neben der Kneipe mitten in der Innenstadt von Heidenheim. Aber Sicherheit ist nichts, um das man einen Zaun bauen kann. Auf dem brüchigen Asphalt flackern rote Kerzen in den Wind. Bunte Filzstifte schreiben „Warum?“, versprechen „Wir werden euch nie vergessen!“ und fordern „Stoppt den Nazi-Terror!“ Fotos zeigen junge Gesichter. Am 19. Dezember um 23.30 Uhr starben hier die drei Freunde Victor B. (15), Aleksander S. (17) und Waldemar I. (16). Die ersten Blumen sind verwelkt.

Normalerweise muss Volker Spellenberg, der Geschäftsführer des K 2, nur zwei-, dreimal im Jahr die Polizei rufen. Meist hat dann ein Gast zu viel getrunken. Konzerte, Theater und Lesungen locken ein alternatives Publikum in den alten Fachwerkbau, darunter viele Punks. Hier in Heidenheim, einer 50.000-Einwohner-Stadt auf der Ostalb, ein Glücksfall. Aber an diesem Freitagabend vor Weihnachten muss der 37-jährige Spellenberg gleich dreimal zum Telefon rennen. Beim dritten Mal wählt er den Notruf.

Eine Woche ist vergangen seit dieser Nacht. Unter der dunklen Holzdecke im K 2 sitzt Spellenberg mit zwei Jungen, 19 und 22 Jahre alt, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchten. Vor Tagen waren sie als Ersthelfer bei den Verletzten. „Ich bin seit vielen Jahren beim Rettungsdienst, aber so etwas habe ich noch nie gesehen“, sagt der eine, einen rot gefärbten Iro auf dem Kopf. „Kaltblütig hingerichtet wurden die.“

Es ist gegen 22.30 Uhr, als Leonhard Schmidt, 17 Jahre alt, zusammen mit seiner Freundin vor dem K 2 auftaucht. Türsteher Roger lässt ihn nicht hinein. Eine Stunde später wird Leonhard ein 20 Zentimeter langes Messer ziehen und drei Jungen, nur wenig jünger als er selbst, das Leben rauben. „Leonhard hatte Hausverbot“, erzählt Spellenberg. Der Grund ist die Nacht zum 3. Oktober. Damals lauern vor dem K 2 fünfzehn Skinheads einem Punk auf, schlagen mit Stöcken auf ihn ein. Dabei ist Leonhard Schmidt. Seine Hand führt eine Flasche, die das Opfer am Kopf verletzt.

Schon vorher war Leonhard in Heidenheim als junger Mann bekannt, der seine rechtsradikalen Ansichten nicht versteckt. An diesem Abend kurz vor Weihnachten beteuert er: „Ich mache nichts, wir wollen nur ein Bier trinken.“ Spellenberg ruft die Polizei. Die Beamten nehmen die Personalien auf und erteilen einen Platzverweis. Ein Messer entdecken sie nicht. Leonhard und seine Freundin verschwinden in der benachbarten Kneipe „Stattgarten“.

Eine Stunde später wird Spellenberg wieder zur Tür gerufen. Im Hof stehen Victor, Aleksander, Waldemar und drei weitere Freunde auf der einen Seite. Sie alle haben Eltern, die Anfang der Neunzigerjahre als so genannte Russlanddeutsche in die Stadt zogen. Auf der anderen Seite Leonhard samt Freundin und mindestens einem weiteren Freund, in Bomberjacke, den Kopf kahl geschoren.

Dieser Freund und einer der Jungen beginnen eine Prügelei. Der Türsteher, ein kräftiger Kerl, trennt die beiden, hat sie noch im Griff, als Aleksander etwas nach vorne tritt und Leonhard anschreit. In diesem Moment zieht der sein Messer und sticht zu. Aleksander bricht zusammen. „Seine Atmung ging sehr schnell weg, wir haben versucht ihn zu reanimieren und zu intubieren, aber es hat nichts genützt, sein ganzer Bauch war aufgeschnitten“, erzählt der Ersthelfer.

Auch Waldemar und Victor liegen schwer verletzt am Boden. Der Täter ist mit seiner Freundin durch den benachbarten Biergarten geflüchtet. Inzwischen ist die Polizei eingetroffen. „Die wollten nicht mal einen Erste-Hilfe-Koffer im Auto haben“, erinnert sich der 22-Jährige vom Rettungsdienst. Victor und Waldemar sterben im Hof zwischen Kneipe und Knast, Aleksander wenig später im Krankenhaus.

Die Nachricht vom dreifachen Mord verbreitet sich schnell. A-n-g-s-t, schreibt sich die Botschaft. Heidenheim ist eine Industriestadt. Übersetzt heißt das eine Arbeitslosenrate von über 10 Prozent, eine der höchsten in Baden-Württemberg. Etwa 15 Prozent der Einwohner sind Immigranten, zum größten Teil deutschstämmige Russen. In den 90er-Jahren ist Heidenheim eine Hochburg der Rechten. Die Republikaner erzielen hier ihre besten Wahlergebnisse, teils über 14 Prozent. Besuche von Franz Schönhuber wachsen sich zu Großveranstaltungen aus.

Das alles sollte Vergangenheit sein. Bei der letzten Bundestagswahl erhielten die rechten Parteien zusammen gerade 3,5 Prozent der Stimmen, die Integration der Russlanddeutschen war offiziell geglückt, und im Jahr 2006 soll die Landesgartenschau einen schönen Glanz auf die Stadt werfen. Jetzt ein rassistisch motivierter Dreifachmord? Noch in der Tatnacht versammeln sich etwa 50 jugendliche Russlanddeutsche vor dem Krankenhaus und schwören Rache. Einer der Gründe, weshalb die Offiziellen der Stadt so große Angst vor weiteren Gewalttaten haben. Oberbürgermeister Bernhard Illg (CDU) erklärte schnell: „Die Wahrheit ist doch, ein Deutscher hat drei Deutsche umgebracht.“ Die Staatsanwaltschaft verkündet bereits am 22. Dezember, es handle sich um eine Einzeltat ohne erkennbares rechtsextremes Motiv.

Linke Gruppen aus Heidenheim und dem ganzen Land glauben an eine politische Tat. Auf einer Demonstration am 27. Dezember klagt die Sprecherin des baden-württembergischen VVN-Bundes der Antifaschisten, Anne Rieger: „Hier wird versucht, einen rechtsradikalen neofaschistischen Zusammenhang von vornherein zu leugnen.“

Auf dem Ernst-Jäckle-Platz am Ende der Fußgängerzone haben sich etwa 500 Demonstranten versammelt. Unter den linken Jugendlichen ist Leonhard Schmidt kein Unbekannter. „Ich hab den vor allem als Spinner mit großer Klappe erlebt, der die Leute im McDonalds als Juden beschimpft hat“, erzählt der 23-jährige Thomas Weisz von der lokalen Antifa. Ein anderer erinnert sich, dass Leonhard schon als 14-Jähriger im Segelflugverein mit einem Messer spielte.

Aufgewachsen ist Leonhard Schmidt in Berlin. Sein Vater ist Architekt, die Mutter Referentin für Sonderpädagogik an einer Berliner Universität. Beide engagieren sich in der Friedensbewegung. Die ideale Familie – auf den ersten Blick. Irgendwann in der Pubertät entgleitet ihnen Leonhard. Mit neuen rechtsradikalen Freunden trinkt er auf Spielplätzen Bier, seine schulischen Leistungen fallen ab. Er wirft Steine von Brücken. Im Sommer 2003 schicken ihn die Eltern auf Anraten eines Psychologen zu Manfred Nemeth, seinem Onkel, der in Herbrechtingen einem Nachbarort von Heidenheim, eine Fahrschule besitzt. Schon früher hatte er dort öfter die Ferien verbracht.

„Man hat versucht, einen rechtsradikalen Hintergrund von vornherein zu leugnen“

Was die Eltern nicht wissen, auch in Heidenheim bewegt sich Leonhard in rechten Kreisen. Das „Scharfe Eck“ und der „Schloßkeller“, bekannte Treffpunkte für Rechte, werden seine Stammlokale. Die Heidenheimer Nachwuchsnazis bewundern ihn, sie nennen ihn „den Berliner“. Er erzählt von wilden Prügeleien und Jagd auf Ausländer in der Hauptstadt. Warum die Eltern ihren Sohn ausgerechnet zu Manfred Nemeth schickten, ist unklar. Bei der letzten Gemeinderatswahl kandidierte der Hobbyjäger jedenfalls für die Republikaner.

Nach der Tat kann Leonhard zunächst flüchten. Eine selbst gebaute Pistole und acht Schuss Munition, die er bei sich hat, wirft er in einen Baggersee, dann versteckt er sich bei einem Freund in Dillingen, wo er seit Oktober wohnt. Der Onkel hatte ihn nach der ersten Gewalttat vor dem K 2 aus dem Haus geworfen. Offiziell betreut vom Jugendamt, lebte er seit dem bei dem ebenfalls als rechtsradikal bekannten Freund. Am Nachmittag nach der Tat stellt sich Schmidt der Polizei, der Vater soll auf ihn eingewirkt haben. Schmidt sitzt nun in Untersuchungshaft an einem geheimen Ort und schweigt. „Genaueres erwarte ich erst im Hauptverfahren“, sagt Oberstaatsanwalt Harald Stephan. „Wir gehen nach wie vor von einer Einzeltat ohne rechtsextremistischem Motiv aus.“

Tatsächlich aber gibt es in Heidenheim eine Serie von Fällen rechter Gewalt, in die Leonhard Schmidt verwickelt ist und die von der Polizei nur halbherzig untersucht werden. Ebenfalls in der Nacht des 3. Oktobers werden auf dem Parkplatz eines Supermarktes vier Jugendliche von einem Dutzend Skinheads verprügelt. Die Polizei sucht erst am 14. Oktober via Lokalpresse nach Zeugen. Am 10. Oktober laufen rechte Gruppen durch Heidenheim. Sie tragen T-Shirts der Organisation „Nationaler Widerstand“ – auch Leonhard wird gesehen. Einige Jugendliche, die regelmäßig im K 2 sind, bekommen Kurzmitteilungen auf ihr Handy, die zur nächtlichen „Entscheidungsschlacht um Heidenheim“ vor das Konzerthaus laden.

„Die Polizei macht ja sowieso nichts für uns.“ Bitter klingt die Stimme des 18-Jährigen, der ebenfalls anonym bleiben will. Der Junge mit den hellblonden Haaren musste mit ansehen, wie seine Freunde vor dem K 2 starben. Im Jugendtreff von Reuten, einem Stadtteil in dem viele Spätaussiedler wohnen, erzählt er von der Nacht, deren Bilder noch immer unkontrolliert durch seinen Kopf rasen.

Wie fast jeden Freitag sind die Jungs in der Disco „MOM“, als Aleksander, mit dem er seit der fünften Klasse eng befreundet ist, und Waldemar plötzlich weggehen. „Sie haben irgendetwas von Stress mit einem Nazi gesagt. Wir wollten sie nicht alleine lassen.“ Vor dem K 2 kommt es zum Streit. Zusammen mit zwei Freunden bringt er sich erst mal selbst in Sicherheit. Als er zurückkommt, ist die Polizei da. Über Victor und Waldemar liegt bereits eine Decke. An Heiligabend wurden sie beerdigt.